Provokation oder Dilettantismus?

Göttinger Polizeieinsatz vom letzten Wochenende im Landtagsinnenausschuß / Grünen-Anfrage zur Einsatzmentalität  ■  Aus Göttingen Reimar Paul

Auch nach der Unterrichtung des niedersächsischen Innenausschusses durch die Landesregierung bleibt nach Ansicht der Grünen offen, warum eine Polizeihundertschaft vergangenes Wochenende Demo-Teilnehmer nach Kundgebungsabschluß angegriffen hatte. Die Vermutung der Grünen, daß eine rechtslastige „Einsatzmentalität“ hierfür ausschlaggebend sei, hat sich ihrer Meinung nach durch einen neu bekannt gewordenen Vorfall bestätigt. Beamte des berüchtigten Zivilen Streifenkommandos hatten offenbar aus nächster Nähe den Prügelbesuch von Skinheads in einer Disco mit Häme beobachtet, ohne einzuschreiten.

Wie berichtet waren am Samstag zwischen fünfzehn- und zwanzigtausend Menschen mehrere Stunden lang in Göttingen gegen Neofaschismus und Polizeigewalt demonstrieren gegangen. Nach der Abschlußkundgebung war eine Einsatzhundertschaft aus Braunschweig in Höhe des Jugendzentrums Innenstadt (JUZI) mitten unter die sich bereits zerstreuenden Demo-TeilnehmerInnen geprescht. Mehrere DemonstrantInnen hatten sich - und andere - mit Steinwürfen gegen die heranstürmenden Polizisten verteidigt. Aus schriftlichen Augenzeugenberichten geht hervor, daß einzelne Beamte im Verlauf der folgenden, ca. 15 Minuten andauernden Auseinandersetzung auch auf am Boden liegende Personen einprügelten und Steine und Holzknüppel gegen die vor dem JUZI versammelte Menge warfen.

Während sowohl Göttinger Autonome als auch DemonstrantInnen aus anderen politischen Zusammenhängen den Polizeieinsatz als „Versuch, eine Eskalation zu provozieren“ bewerteten, sprach die Göttinger Polizeiführung von einer „Verwechslung“. Bereits am Montag erklärte Schutzpolizeichef Will gegenüber der Presse, die fragliche Braunschweiger Hundertschaft hätte eigentlich eine Straßenecke weiter der Besatzung eines zuvor umgekippten Streifenwagens zur Hilfe kommen sollen, und sei nur irrtümlicherweise vor dem JUZI aufgetaucht.

Die Version vom „grausamen Mißverständnis“ - dieser Formulierung soll sich Innenminister Stock während der Ausschußsitzung bedient haben - erscheint aber fragwürdig, denn im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung kümmerte sich weder die 72. Einsatzhundertschaft noch irgendeine andere Einheit um den 300 Meter entfernten Streifenwagen.

Der Fraktionsvorsitzende der Grünen Trittin wirft dem Innenminister vor, auch zu weiteren Fragen des Polizeieinsatzes „jede Auskunft verweigert“ zu haben. Dies lasse nur zwei Schlüsse zu: „Entweder setzte die Einsatzleitung der Göttinger Polizei unter Lothar Will auf Provokation, oder aber die Geschehnisse belegen ihren Dilettantismus.“

Unterdessen ist die Göttinger Polizei erneut unter schweren Beschuß geraten. Wie die Grünen jetzt öffentlich bekannt machten, griffen am Abend des 27.Oktober etwa 25 Skinheads einen Ausländer und zwei weitere Personen in einer Diskothek tätlich an. Nach Berichten anwesender Jugendlicher wurden weitere Besucher im Eingangsbereich der Disco von den Skins bedroht. Erst als weitere Gäste zur Hilfe kamen, seien die Skinheads „gröhlend“ abgezogen. Während des gesamten Vorfalls sollen zwei Fahrzeuge des Göttinger Zivilen Streifenkommandos (ZSK) direkt vor der Diskothek geparkt haben. Das ZSK war zuletzt im Zusammenhang mit dem Tod der Studentin Conny Wissmann in Erscheinung getreten: Aus dem Wagen des Leiters dieses Kommandos war am 17.11. über Funk der Vorschlag unterbreitet worden, eine Gruppe von AntifaschistInnen, unter denen sich auch Cornelia Wissmann befand, „plattzumachen“. Die Anwesenheit der ZSK-Beamten auch vor der Diskothek wird nach Meinung JÜrgen Trittins durch folgenden aufgefangenen Funkspruch bestätigt: „Ein ausländischer Mitbürger betritt die Tangente (Name der Diskothek, d. Red.) - mal seh'n, wie er wieder rauskommt“. Ein Polizeisprecher wollte die Authenzität gegenüber der taz nicht kommentieren.

Die Grünen haben eine parlamentarische Behandlung des Vorfalls erwirkt. In einer kleinen Anfrage an die Landesregierung heißt es unter anderem: „Ist der aufgefangene Satz - so er zutrifft - ebenfalls 'flapsig‘ gewesen, oder offenbart er nicht vielmehr eine 'Einsatzmentalität‘, die zwar Linke 'plattmachen‘ möchte, es aber bei Skin-Übergriffen vorzieht, zuzusehen?“