Wer braucht Schönheit?

■ Patrick McGrath‘ Erzählungen „Wasser und Blut“ gehören zu den fesselndsten dieses Jahres. Elke Schmitter sprach mit dem 39jährigen Londoner Autor

Mr McGrath, Sie sind nicht nur Schriftsteller, sondern auch Mitherausgeber zweier avantgardistischer Zeitschriften für Literatur und Kunst und haben in dieser Eigenschaft selbst Interviews gemacht. Welche Frage stellen Sie zuerst, wenn Sie einen Autor interviewen?

Nun, normalerweise versuche ich, mit einer freundlichen Frage zu beginnen, damit der Autor sich wohl fühlt, mit einer Frage, die gleichsam automatisch beantwortet werden kann...

Was wäre das also für eine Frage? Die Aufforderung vielleicht, den Lesern etwas aus Ihrem Leben zu erzählen?

Nun, wohl fühle ich mich eigentlich schon...Aber ich will gern etwas zu meinem Leben sagen, insofern es für mein Schreiben von Bedeutung ist. Es ist wohl wichtig zu wissen, daß mein Vater Psychiater war, und zwar Leiter einer Klinik für gewalttätige Geisteskranke in England. Ich bin also aufgewachsen in einer permanenten Konfrontation mit extremen Feldern der menschlichen Psyche, gewissermaßen des dunklen Teils der Seele. Ich wurde von Jesuiten erzogen - und bei jeder Art von katholischer Erziehung lernt man, daß Körper und Geist sich im Krieg befinden, daß, was für den einen Teil des Menschen gut ist, den anderen notwendig schädigen muß. Und man behält ein solides Schuldbewußtsein zurück, wenn es um körperliche Befriedigung geht... Beides habe ich in gewisser Weise als eine gute Voraussetzung für meine schriftstellerische Arbeit empfunden, denn diese spezifische Art von Spannung zwingt zu einer Betrachtung der Natur von Unterdrückung und Gewalt gegen sich selbst.

Ich frage mich, ob die Beziehungen zwischen Geist oder auch Seele und Körper, diese klassische Distinktion, die Sie beschreiben, noch zu unseren Lebensbedingungen in der Gegenwahrt zählen. Auch Ihre Geschichten sind selten in der Gegenwart angesiedelt, Sie spielen im viktorianischen England, im kolonialistischen Indien, in der zukünftigen Situation eines Atomkriegs. Haben Sie tatsächlich den Eindruck, daß die Art von Konflikt, den Sie focussieren, der Hauptkonflikt heutiger Menschen ist?

Sicher nicht in der simplen Art, wie ich diesen Konflikt beschrieben habe. Ich versuche in meiner Arbeit zu begreifen, wie wir heute mit uns selbst umgehen, mit unseren Seelen, mit der Zeit, die wir vernachlässigen, mit unseren Körpern und seinen Stimulantien, mit unseren Beziehungen zu anderen Menschen, mit den Strukturen der Macht, die bis in die Familienstrukturen eingreifen. Dies alles ist komplizierter als der Kampf zwischen Körper und Geist, es geht deutlicher um Fragen der Macht: Wie konstituieren wir Realität, wie etablieren wir Mechanismen wie Täuschung, Projektion und Ekel? Aus diesem Grund schreibe ich vorzugsweise in der ersten Person - es geht darum aufzuzeigen, wie sich Spaltungen entwickeln, wie das Bewußtsein sich selbst konstruiert und dekonstruiert. Das gibt dem Leser die Möglichkeit, diese Spannung wahrzunehmen, der sprechenden Person gleichsam über die Schulter zu schauen.

In der Vergangenheit schreibe ich, weil ich versucht habe, das Genre der „Gothic Tale“, des Schauerromans, wieder zu etablieren. Ich bin keineswegs der Ansicht, daß der Realismus den literarischen Königsweg darstellt, um Realität zu beschreiben, ich halte ihn für ein Genre wie alle anderen. Den Schauerroman neu zu beleben, heißt auch, den Beweis zu führen, daß jede literarische Form ihre eigenen Bedingungen und Traditionen aufweist, ihre eigenen Manierismen und Grenzen. Und für meine persönliche Intention, die verborgenen und dunklen Seiten der menschlichen Psyche zu beschreiben, ist die Schauergeschichte eine ideale literarische Form.

Sind Sie der Ansicht, daß in dem Konflikt zwischen Körper und Geist, zwischen Dionysos und Apollon, Dionysos gesiegt hat.

Darüber muß ich nachdenken. Auf den ersten Blick würde man vielleicht sagen, daß wir heute, 1989, als Sieger aus diesem klassischen Konflikt hervorgegangen sind, den Baudelaire beschrieben hat. Baudelaire ist für mich der Pionier dieses Konflikt in literarischer Hinsicht, der erste moderne Romantiker, der die Zerreißprobe beschrieben hat, die darin besteht, eine Sensibilität zu unterdrücken, die vollkommen unvereinbar war mit einem industrialisierten, profit- und produktionsorientierten Zeitalter. Natürlich unterscheidet sich unser Kapitalismus deutlich von dem zu seiner Zeit, und doch haben wir im Wesentlichen dieselbe Stadt vor Augen, dieselbe Gesellschaft, die Ziele verfolgt, die vielen von uns eigentlich sinnlos erscheinen. Und man muß sich die Frage stellen, warum so viele Menschen ihr Leben daran geben, eine neue Zahnpastamarke zu bewerben, zu verkaufen... Und in dieser Hinsicht, glaube ich, sind wir noch immer in Baudelaires Dilemma verfangen.

Sie setzen voraus, daß viele Menschen unglücklich sind, ohne es zu merken, sich an Trivialitäten verschwenden.

Nein, das wollte ich nicht sagen. Es gibt eine Reihe von Menschen in Amerika, die unsere Kultur akzeptieren, die darin leben und mit ihr zufrieden sind. Ebenso hat die Avantgarde heute ihre Unschuld verloren und nutzt die Mechanismen des Marktes, die sich mit der Kultur verwoben haben. Jeder Film, jedes Buch, jedes Bild wird beworben und verkauft. Man kann diese Beziehung selbst thematisieren, eine Galerie zurückverwandeln in einen Supermarkt - das ist kürzlich in New York passiert.

Das klingt nach einem Revival von Dada.

Ja, aber es ist nicht Dada, dieser Geste fehlt das subversive Element. Es führt das System nicht ins Absurde oder in die Lächerlichkeit, es spiegelt das System lediglich und produziert dieselbe Glätte und Perfektion, die unsere Konsumgüter auszeichnen. Die perfekten Objekte in den Schaufenstern der 5th Avenue werden wiederholt, und die Kritik besteht in dieser schweigsamen Präsentation ihrer selbst. Insofern gibt es einen Zusammenhang mit Dada, aber die Subversion hat ihren Stachel verloren. Ebenso gibt es natürlich Literatur, die sich auf sich selbst bezieht... ich weiß keinen Ausweg aus dieser Situation, aber es ist immer noch möglich, einfach ein gutes Buch zu schreiben.

Ein biographischer Essay über Ihre Kindheit behandelt die Veränderung des psychiatrischen Gefängnisses, dessen Direktor Ihr Vater war, zu einer modernen Klinik, und Sie beschreiben darin unter anderem den Verlust einer persönlichen Aura, die manchen Verrücktheiten menschliche Nischen bot. In der Gegenwart scheint das technische Moment des Umgangs mit psychisch Kranken zu überwiegen. Glauben Sie, daß unser „Wissen“ über die Psyche zu einer humaneren Behandlung beigetragen hat, daß die Redseligkeit, mit der wir über unsere Geheimnisse Auskunft geben, einen Fortschritt darstellt in der Erforschung der „dunklen Landschaften der Seele“?

Ich glaube, daß wir ein Recht haben, uns vor Gefährdungen durch Geisteskranke zu schützen. Aber wir haben kein Recht, nach unseren Standards psychisch Kranke mit Medikamenten vollzupumpen oder zu versuchen, ihre Psyche zu „rekonstruieren“. Psychiatrie heute ist eine elaborierte, rationalisierte Form gesellschaftlicher Kontrolle, die normalerweise durch ein medizinisches Modell von Gesundheit gerechtfertigt wird, eine Kolonialisierung der Persönlichkeit. Was schließlich die Redseligkeit anbelangt, so bezweifle ich einen Fortschritt. Die Sprache selbst scheint mir da eine Dubiosität zu enthüllen: Wenn man versucht, einen tiefen Einblick in die Psyche sprachlich zu konstruieren, dann dekonstruiert man sie. Man gräbt und gräbt und befindet sich schließlich in einem Labyrinth aus Sprache, eher geeignet, die Theorien über den Tod des Subjekts zu bestätigen...wie eine Zwiebel mit einem Loch in der Mitte.

Ist die Seele etwas, das man nur aus den Augenwinkeln sehen kann?

Ja, das könnte so sein. Die Seele erscheint als etwas sprachlich nicht faßbares. Übrigens muß ich vielleicht richtigstellen, daß ich die Seele nicht als etwas Ewiges betrachte...ich neige eher der Vorstellung zu, daß wir sterben und begraben werden und, nun ja, verrotten, wie alles andere.

Gehört es zu Ihren wesentlichen Intentionen, ihren Lesern die dunkle Seite ihrer Seele, die Wahrnehmungsverzerrungen und Projektionen, die sie beherrschen, zu zeigen? Oder erscheint Ihnen diese Formulierung zu pädagogisch?

Ja, eigentlich schon. Ich habe ein wesentlich ästhetisches Interesse, wenn ich eine Geschichte oder einen Roman schreibe, ich will eine Form zu einer Vollendung bringen. Ich vertraue darauf, daß das Material - der Inhalt, die psychologischen und sozialen Aspekte - gewissermaßen von selbst zu seinem Recht kommt, während ich meine Anstrengung auf die Organisation des Textes selbst richte, auf seine Schönheit. Natürlich unterscheidet sich unser Begriff von Schönheit von dem aller vergangenen Jahrhunderte - aber ich habe eine Idee davon, wie er sich heute realisiert.

Das könnte ein schöner Schluß für dieses Interview sein. Aber nachdem Sie die erste Frage an sich selbst gestellt haben, sollten Sie auch die letzte formulieren...

Hm...ich frage mich natürlich selbst: Wer braucht Schönheit?

Patrick McGrath, Wasser und Blut - Erzählungen, S. Fischer, 224 Seiten, 29,80 DM