Hymnen an den Tag

■ Liebesläufe - der dritte und letzte Teil der Romantrilogie von Marguerite Yourcenar

Liebesläufe ist der dritte Teil ihres großanlegten Familientriptychons Das Labyrinth der Welt. Der erste Band Gedenkbilder war der Familiengeschichte ihrer Mutter, der zweite Band Lebensquellen der ihres Vaters gewidmet. Die Lebensquellen enden mit dem Einzug der Eltern in das Schloß auf dem Mont-Noir im französischen Departement Nord, wo sich ihr verwitweter Vater Michel de Crayancourt am Beginn der Liebesläufe mit seiner kleinen Tochter allein wiederindet. Das Ganze eine Familiensaga in Fortsetzungen, ausgestattet mit dem damals notwendigen Necessaire für eine geschichtsträchtige Existenz: Adelstitel, Schloß, Stadtwohnung, Dienstboten, Mätressen, Reisen, Winterquartier am Mittelmeer et cetera.

Das Projekt der Marguerite Yourcenar: die Geschichte der Epoche im Spiegel der Geschichte ihrer Familie einzufangen. Ihre unausgesprochene Voraussetzung: daß sich das eine wirklich im anderen spiegelt, daß der Mensch wirklich dieses Mischwesen, dieses „allgemein Besondere“ ist, als das Sartre ihn in seinem Flaubert-Buch beschrieben hat. Halb Geschichte, halb Individuum. Das eine immer auch Ausdruck des anderen, keines für sich allein auch nur zu verstehen.

Marguerite Yourcenar stellt diese Dialektik in ihren Romanen auf die Probe, setzt ihre Figuren in den Sandkasten der Geschichte und beobachtet aus der Ferne, was Sand und Figur, was Geschichte und Mensch aus einander machen. Das Grundmuster ist bekannt und bewährt: Der einzelne vertritt das Ganze, das Ganze zeigt sich am Beispiel des Einzelnen. Der Autor wohnt dem Treffen der beiden in auktorialer Ferne bei. Nicht umsonst hat man Marguerite Yourcenar bei ihrer Aufnahme in die Academie fran?aise im Jahr 1980 eine besondere „Festigkeit des Stils“ und Klassizität bescheinigt. Zwei Eigenschaften, die man anscheinend benötigt, um ganze Generationen stör- und unfallfrei durch die Jahrhunderte französischer Geschichte zu schicken.

Was bei solchen Panoramablicken jedoch schnell auf der Strecke bleibt, ist die Naheinstellung, ist das Zerbrechen der Beobachteroptik, der Verlust der Außenansicht, sind die Unter- und Innenwelten der Geschichtsrepräsentanten, eingegangen, noch bevor sie zum Ereignis, bevor sie Geschichte geworden sind. Gesetzt wird auf die Außenwelt der Innenwelt, auf die Tagseite des Geschehens. Der Grund für diese Abstinenz mag in der Ökonomie des Erzählens oder in der vorbeugenden Abneigung des Klassikers gegenüber den „Nachtseiten“ der Menschen zu suchen sein.

Und doch ist Marguerite Abstinenz vorderhand nicht anzumerken: DieLiebesläufe erzählen vom Leben der kleinen Marguerite Yourcenar und vor allem vom Liebesleben ihres Vaters Michel de Crayancourt in den ersten 19 Jahren dieses Jahrhunderts. Kundig und lebensschlau berichtet das kleine Mädchen aus der Retrospektive von den Amouren ihres Vaters, von seinen Geliebten, ihren Gewohnheiten, ihren Kleidern, ihren Düften, ihren Ehemännern - vor allem aber von einer ganz besonderen Geliebten: Jeanne de Reval. Der Frau, wie sie sein muß: schön, vorurteilslos und voller Seele. Nach dem frühen Tod ihrer Jugendfreundin Fernande wird die Musterfrau bald zur Geliebten und Ersatzmutter für Michel und Marguerite, wird für den einen zur wichtigsten und unerreichbarsten Frau seines Lebens, für die andere zum lebenslangen Vorbild, zum Modell des perfekten Menschen.

Jeanne ist verheiratet mit Egon von Reval, Komponist, „Gott“ und „Schmerzensmann“, der jedoch noch andere Götter hat neben ihr: die Musik und die Männer. Allen voran Franz, ein schönes, „ganz aus Fleisch bestehendes Objekt“, an dem der junge Ehemann die „Begierden und Phantasmen“ seines Körpers erprobt. Die besondere Spezialität der beiden: Schlagen und Geschlagenwerden. Jeanne nennt das: sein Fleisch auf sich nehmen. Das Fleisch und die Nachtseiten. Marguerite Yourcenar hat sie also nicht vergessen. Nicht von ungefähr komponiert Egon gerade in Zeiten, in denen er sein Fleisch besonders heftig auf sich nimmt, eine Musik nach Novalis‘ Hymnen an die Nacht.

Die Tagwelt gerät ins Wanken: Egon und Franz werden eines Nachts bei ihrem dunklen Treiben in Rom verhaftet, die Ehe durch einen Skandal gefährdet. Michel, ganz Herr und Retter, macht seiner Geliebten umgehend einen Heiratsantrag. Jeanne, halb Dame im Fischbeinkorsett, halb liebende Seele, lehnt förmlich ab: Es gibt keine Insel, auf der man nicht auch im Unglück in Frieden leben kann. Spricht's, verläßt gesetzten Schritts das Haus und den Geliebten, vergißt noch nicht einmal den Sonnenschirm in der Garderobe und fährt im Fiaker davon. Die Welt wankt und fällt nicht um - dank den Frauen und ihren ungeschriebenen Hymnen an den Tag.

Den Tag, für den kein Preis zu hoch ist: Egon beleidigt Jeanne aufs Gröbste („Kein Tag, kein Augenblick in all diesen Jahren, wo Sie mir nicht Abscheu eingeflößt haben“), Jeanne streicht die Falten ihres Mantels glatt, denkt daran, morgen für die Kinder endlich Spielzeug zu besorgen, und entschuldigt ihren Gatten aufs Feinste („Nicht er sprach hier, sondern sein Dämon“).

Die Gefahr ist groß, doch das Rettende wie so oft von schnellem Wuchs. Der gute Ton setzt sich durch. Gerade in der Konfrontation mit den Nachtseiten des Humanismus schärft und modernisiert Marguerite Yourcenar das Waffenarsenal der Klassik: Maß, Takt und Humanität laufen zur Höchstform auf, wo sie sich an ihrem Gegenteil bewähren müssen. Jeanne wird am Ende Sieger nach Punkten, die Ehe ist gerettet.

Und das Programm des Labyrinths der Welt? Es geht auf. Contenance und Haltung in haltloser Lage. Ausgewogenheit und Maß innen im Herzen und außen im Leben. Geschichte und Kontinuität in den Lebens- und Liebesläufen der Menschen. Alles wird bewahrt. Der Preis? Das Vollblut. Das Vorbild? Die Kuh. „Man hält die Kühe für weniger intelligent als die Pferde“, erklärt Michel seiner kleinen Tochter einmal, „aber wenn eine Kuh zufällig ihren Kopf in einem Stacheldrahtzaun verheddert, dann zieht sie ihn sanft heraus, wobei sie den Hals zuerst nach der einen, dann nach der anderen Seite dreht. Ein Bauernpferd bringt das auch manchmal fertig. Aber ein Vollblut reißt sich dabei in Stücke.“

Das also hat Marguerite Yourcenar gewollt. Kein vollblütiges Stückwerk, sondern ein Werk, das einem behutsam den verhedderten Kopf aus der Schlinge zieht. Erst nach der einen, dann nach der anderen Seite. Geduldig und sanft. Bis die Geschichte zu Ende ist.

Iris Radisch

Marguerite Yourcenar: „Liebesläufe“. Eine Familiengeschichte; aus dem Französischen von Rolf und Hedda Soellner, Carl Hanser Verlag, München 1989, 312 Seiten, 39,80 DM