Perestroika - etwa auch in den USA?

Das Abrüstungstabu ist zwar gebrochen und es wurden Budgetkürzungen vom Militärapparat selbst vorgeschlagen / Doch „Neues Denken“ ist das nicht  ■  Aus Washington Rolf Paasch

Für die Bush-Administration ist die Öffnung der Mauer gerade noch rechtzeitig gekommen. Denn ohne das Ende des kalten Krieges wäre die Politik des George Bush, das US -Haushaltsdefizit bei gleichbleibenden Rüstungsausgaben ohne Steuererhöhungen herunterzufahren, bald am Ende gewesen. Erst seit den Fernsehbildern deutsch-deutscher Mauertänzer auf dem abbröckelnden Symbol des kalten Krieges ist es in den USA politisch opportun geworden, über eine nennenswerte Reduzierung des 300 Milliarden Dollar Rüstungsetats offen nachzudenken.

Welch ökonomische und fiskalpolitische Dringlichkeit eine Senkung der Rüstungsausgaben zur Reduzierung des Haushaltsdefizits hatte, beweist die Heftigkeit der Debatte. Um einer wilden Attacke auf das Pentagon-Budget zuvorzukommen, hat Verteidigungsminister Dick Cheney nun die Flucht nach vorne angetreten: 180 Milliarden Dollar, so regte der Hardliner im US-Verteidigungsministerium an, können über die nächsten fünf bis sechs Jahre aus dem Rüstungsetat gestrichen werden. Und nun rechnen sie in dem achteckigen Gebäude am Ufer des Potomac, wo so viele überflüssige Beamte sitzen wie in einer Sowjet-Bürokratie, wie die Eichhörnchen vor dem nächsten Entspannungswinter. Zwei Armee-Divisionen hier abspecken, dort ein Dutzend militärische Stützpunkte schließen, die unter Reagan ausgemotteten Schlachtschiffe wieder ins Museum zurücksegeln, ein paar eh veraltete Flugzeugträger ausrangieren und einige der unsichtbaren Stealth-Bomber streichen, so hoffen die Militärplaner, dies werde schon eine Einflußnahme von außen auf das Militärbudget verhindern. In einem überraschenden Rollentausch geben sich die Militärs nun gemäßigt, während die Kongreßmitglieder überflüssige Waffensysteme weiterbestellen, solange Arbeitsplätze im eigenen Wahlkreis gerettet werden können.

Nachdem das Abrüstungstabu in den USA nun gebrochen ist, tobt zunächst eine von der Administration mit unverbindlichen Zahlen genährte und von der Medienindustrie inszenierte Debatte über die Höhe der zukünftigen Militärausgaben. Die Volksvertreter schwören, es im nächsten Haushaltsjahr mit der Streichung von Waffensystemen zur Linderung des Haushaltsdefizits wirklich ernst zu meinen. Sowjetologen und Ostkundler in den „think tanks“ entwerfen neue sagenhafte Kürzungsvorschläge, um nicht hinter dem Pentagon und den Generälen zurückzustehen. Wie in einem Planspiel werden Dollarmilliarden, Truppendivisionen, Flugstaffeln und Atomraketen herumgeschoben. Hauptsache, es entsteht der Eindruck, es bewege sich was.

Bemerkenswert an dieser gegenwärtigen Diskussion ist die völlige Abwesenheit qualitativer Kriterien für die Auswahl alter oder neuer Waffensysteme, mit denen hier scheinbar ziellos herumjongliert wird. Wenn denn schon eine Budgetreduzierung sein muß, soll die resultierende Militärstreitmacht schlanker, flexibler und tödlicher aus der verschriebenen Abmagerungskur hervorgehen. Kriterien für eine Deeskalierung möglicher Konflikte spielen in der Debatte um den zukünftigen Charakter der US-Streitmacht keine Rolle. Mehr Schlagkraft für weniger Geld, so lautet die neue Abrüstungsmaxime.

Ein genauerer Blick auf die jetzt zur Diskussion gestellten Einsparungen beim Militäretat rückt auch die Zahl von 180 Milliarden Dollar in ein ganz anderes Licht. Die Zahl bezieht sich auf Einsparungen gegenüber dem bis heute von der Bush-Administration offen vertretenen Fünfjahresplan, der tatsächlich eine jährliche Steigerung des Rüstungsetats zum Ziel hat. Inflationsbereinigt blieben von den 180 Milliarden Dollar am gegenwärtigen Ausgabenniveau bemessen allerhöchstens Einsparungen von 50 Milliarden Dollar übrig, ehe der Vorschlag dann im parlamentarischen Verhandlungsprozeß noch weiter reduziert werden dürfte.

So ist denn das ganze Abrüstungstheater bisher nichts anderes als die um Jahre verspätete Erkenntnis, daß sich die USA keinen ansteigenden Rüstungsetat mehr leisten können; der zaghafte Versuch, den zu Ende gehenden kalten Krieg zu einer minimalen Entlastung des enormen Haushaltsdefizits zu benutzen. Während mit der neuen Abrüstungsbereitschaft nach außen hin der totale Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus gefeiert wird, beweisen die Auseinandersetzungen über den zukünftigen US-Rüstungsetat etwas ganz anderes: daß nämlich beide Systeme militärisch über ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten gelebt haben. Zu feiern wäre, wenn überhaupt, das Ende obszön aufgeblähter Militärapparate als Resultat eines Ost-West-Konfliktes, in dem die reale Bedrohung längst durch den beiden Seiten genehmen Mythos gegenseitiger Gefährlichkeit ersetzt worden ist.

Die revolutionäre Einsicht der Bush-Administration, daß leichte Kürzungen derzeit populärer sind als die sonst notwendigen Steuererhöhungen, kann allerdings nur der Anfang einer amerikanischen Perestroika sein. Als nächstes müßte eine Generalüberholung der gesamten US-amerikanischen Außen und Sicherheitspolitik erfolgen, ohne die weitere - und wirklich einschneidende - Kürzungen des Militärbudgets völlig willkürlich blieben. Doch von einer kohärenteren Neudefinition der US-Interessen ist die visionsarme Managerriege um George Bush so weit entfernt wie die Sowjetunion von einer erfolgreichen Wirtschaftsreform.

Mag die Bush-Administration ihre Ratlosigkeit in Sachen Europa ja noch mit vielen teilen, so offenbart die US -Außenpolitik an den übrigen Schnittstellen einer neuen internationalen Sicherheitsordnung eine kaum zu übertreffende Gestrigkeit. Abhängig von der Rechten im republikanischen Lager hat es die Bush-Administration bisher weder in Afghanistan noch in Kambodscha und schon gar nicht in Mittelamerika geschafft, aus dem ideologischen Schatten Ronald Reagans herauszutreten. Während sich die UdSSR offenbar die Durchkapitalisierung ihrer ganzen ehemaligen Vasallenstaaten leisten kann, sehen sich die USA nicht in der Lage, im eigenen Hinterhof acht Millionen sozialdemokratischer Campesinos tolerieren zu können. Ein US -Präsident, der angesichts der historisch-dramatischen Ereignisse ih Osteuropa jetzt die sowjetische Einmischung in Mittelamerika zum „primären Gesprächsstoff“ des Treffens mit Michail Gorbatschow machen will, ist nicht nur gipfeluntauglich: er disqualifiziert sich auch für die Aufgabe, die innenpolitische Anpassung der USA an die veränderten Konstellationen der Post-Malta-Ära zu steuern.

Um weitreichende Abrüstungsschritte durchzuführen, die Widerstände des Pentagon zu übrwinden, die Partikularinteressen des Kongresses einzudämmen und die Rückkehr zu einer „zivilen“ Volkswirtschaft einzuleiten, bedarf es einer anderen politischen Führung. Unter George Bush sieht es schlecht aus für eine amerikanische Perestroika.