Singh neuer indischer Premier

Der Chef der stärksten Partei im Bündnis der „Nationalen Front“ soll Regierung bilden  ■ P O R T R A I T

Von Walter Keller

„Wir werden von einer Mafia regiert.“ Harte Worte eines Mannes, der selbst noch bis vor zwei Jahren der Regierung Rajiv Gandhis angehörte und einer seiner engsten Vertrauten war: Vishwanath Pratap Singh, der designierte indische Premier. Der adelige Rajput stammt aus einem Maharadscha -Haus im bevölkerungsreichsten indischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Singh war als Führer der Parteienallianz „Nationale Front“ zusammen mit der hindu-nationalistischen „Bharata Janata Partei“ und den Kommunisten angetreten, um die „Congress-I„-Partei des jetzt zurückgetretenen Premiers Gandhi zu besiegen. „Wir werden die 'Nehru-Dynastie‘ stürzen, die von den 42 Jahren seit der Unabhängigkeit 40 Jahre lang das Riesenland regiert“, hatte er schon im Wahlkampf prophezeit. Singh, Finanzminister im Kabinett Gandhis, galt lange Zeit als Motor für zahlreiche Liberalisierungsmaßnahmen. So stand er für verstärkte ausländische Investitionen und Vergünstigungen für den privaten Sektor zur Steigerung der Produktivität. Für seine Politik erntete er viel Lob aus dem westlichen Ausland. Während er sich vorwiegend an an den Interessen der wohlhabenden Bevölkerung und der Mittelschicht orientierte, ging der wirtschaftliche Aufschwung an den etwa 400 Millionen Armen vorbei. Es war die Zeit der Waschmaschinen und Mikrowellenherde, der Staubsauger, Fast-Food-Restaurants und Fünf-Sterne-Hotels in den Städten. Kreditkarten indischer und ausländischer Banken machten ein luxuriöses Leben inmitten größter Armut für diejenigen möglich, die das entsprechende Kleingeld berappen konnten. Seinen spektakulärsten Auftritt hatte Singh, als er 1986 in einer Nacht- und Nebelaktion die Geschäftsbücher einiger führender Unternehmen in Indien überprüfen ließ. Der Finanzminister interessierte sich vor allem für die abgeführten Steuern und die „schwarzen Kassen“ der Firmen. Diese raids änderten auch sein Image: Fortan galt er nicht mehr nur als der Finanzminister der Reichen. Im Januar 1987 wurde er unerwartet ins Verteidigungsministerium abkommandiert. Dort war er gerade 79 Tage im Amt, als er am 20. April aus Protest gegen die Zahlung sogenannter kick-backs aus Rüstungsgeschäften mit schwedischen und bundesrepublikanischen Unternehmen zurücktrat. Die angeblich von der schwedischen Firma Bofors gezahlten Provisionen an „hochrangige indische Vermittler“ - Spuren führen bis hinein ins Gandhi-Imperium - dominierten in der Folgezeit die politischen Diskussionen. „Bofors“ wurde denn auch zur wichtigsten Wahlkampfmunition der von Singh angeführten vereinigten Opposition. Singh ist die Einigung der breiten und ideologisch sehr unterschiedlichen Opposition gelungen. Ob es Singh als neuer Premier jetzt auch schafft, dieses Bündnis aus regionalen, nationalen, hindu -fundamentalistischen und kommunistischen Parteien länger als ein Jahr zusammenzuhalten, ist zu bezweifeln.