Rattenspuk und Geistertunnel

■ Vergrabene Bahnhof-Embryos, die keiner (mehr) kennt: Eine Expedition durch vor über vierzig Jahren untergangene Metropolenverkehrsträume

„Bevor ich mich hier einsperren lasse, sterbe ich lieber“, meint BVG-Mitarbeiter Lange. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe schwenkt über alte Emailleschilder in Frakturschrift. „34 Personen“ steht da. Wir befinden uns tief in der Erde unter dem U-Bahnhof Moritzplatz in dem Rohling eines S-Bahnhofes der geplanten Linie zwischen Anhalter und Görlitzer Bahnhof. Verwinkelte rohe Betontreppen führten uns in einen unbeleuchteten Raum, der im Krieg mit Betonzwischenwänden unterteilt und als Luftschutzbunker benutzt wurde. Auch heute noch finden hier Katastrophenübungen statt. Die Luftumwälz- und Druckmesseranlagen sind verrottet. Die Senke für die S -Bahngleise steht unter Wasser. Ein fernes Grollen läßt die stickige Luft zittern, über uns buchtet sich die Decke zu einer Rundung aus. „Darin verlaufen die Gleise der U-Bahn“, meint Lange.

Verborgene Embryos von U- und S-Bahnhöfen gibt es mehr in Berlin als jenen am Moritzplatz. Auch am Anhalter und Görlitzer Bahnhof wurden kurze Tunnelstücke gegraben. Ein weiterer „Keimling“ liegt hinter dem Endbahnhof Leinestraße in Neukölln. Der Weg an den Gleisen entlang, Richtung Süden, - ohne Begleitung der BVG natürlich streng verboten - führt in die Vergangenheit. Mehrere U-Bahnzüge immer älteren Baujahres stehen aufgereiht, zuletzt eine „Tunneleule“ mit runden Fenstern. Auf alten Bunkerschildern weisen Pfeile zum „Sanitätsraum“ und zum „Befehlsraum“. „Hier wurden in den Nachkriegsjahren Hunderte von Leichen gestapelt, weil der Winter zu kalt war, um den Boden aufzugraben“, erzählt Lange. Der Weg weitet sich, wir betreten die halbfertige Schalterhalle. Den Hohlräumen in der Decke fehlen noch die Lampen, die Rolltreppen an den Betonaufgängen sind nur angezeichnet. „Rolltreppen gab's in der Berliner U-Bahn schon in den zwanziger Jahren“, sagt Lange stolz. Beim „Männerabort“ ist zwar die Aufschrift und der Rohbau vorhanden, allein die Tür fehlt. Auch die Ausgänge Emser -/Hermannstraße sind fertig, nur ein Gitter trennt uns von den Passanten. Quer über die Rohlinge der Bahnsteige, parallel zur kaum hundert Meter entfernten Ringbahn, verläuft eine Betonwand. Der U-Bahngesellschaft sei das Geld ausgegangen und nach dem Krieg habe die Stadt Wichtigeres zu bauen gehabt, meint Lange.

Geisterbahnhöfe liegen auch in Schöneberg entlang der geplanten Linie 10, unter dem U-Bahnhof Kleistpark, dem Innsbrucker Platz, dem Walther-Schreiber-Platz, der Schloßstraße und dem Rathaus Steglitz. Die Linie 10 wäre parallel zur Wannseebahn verlaufen und wurde deshalb aufgegeben. Ein anderer Geistertunnel befindet sich unter der Dresdener Straße: Ursprünglich sollte hier die Linie 8 verlaufen, aber das Kaufhaus Wertheim, während des U -Bahnbaus eröffnet, pochte auf eine Umleitung.

Noch viele Höhlen von Menschenhand schlummern, oft vergessen, im märkischen Sand, die meisten zwischen Potsdamer Platz und Reichstag. Ein viergleisiges Tunnelstück der S-Bahn wurde dort 1945 von den Briten gesprengt. Ein Autotunnelrohbau am sowjetischen Ehrenmal, der zur Speerschen Nord-Süd-Tangentenplanung gehörte, ist heute verschüttet. Wer weiß, was man erst finden wird, wenn einmal das Niemandsland der Grenze geräumt ist.

esch