Standbild: Die Arroganz der Macht

■ Das literarische Quartett

(Das literarische Quartett, 30.11., 22.55 Uhr) Seit nunmehr einer Dreiviertelstunde sprachen die Herren und Damen vom Schweigen und Sprechen und ziselierten feinsinnig, unter welchen Herrschaftsverhältnissen das jeweilige die angemessene moralische Haltung gewesen sei. Während die Damen Löffler und Obermüller moralische Abstinenz zwar nicht übten, aber doch zu üben beabsichtigten und darauf hinwiesen, daß Reden auf dem Alexanderplatz, Schweigen beim Janka-Prozeß, Denunzieren im Faschismus allemal Verhaltensweisen seien, die leichter soziologisch als moralisch zu beurteilen wären, waren die Herren eifriger: Natürlich! sprach Marcel Reich-Ranicki mit geübter Empörung, sei es verwerflich zu schweigen, wo Sprechen ein Unglück hätte publik machen können; natürlich, sekundierte ihm Helmut Karasek, sei das unbetonte Schweigen vieler Künstler zur Zeit des Faschismus unentschuldbar.

Da trat ein Sprechender in die Runde. Ein Mann um die Dreißig, weder angetrunken noch beschmutzt, der deutschen Sprache akzentfrei mächtig, setzte sich einfach auf den freien Platz, neben Reich-Ranicki aufs Sofa. Er wollte eine Erklärung abgeben, die sich gegen die differenzierte Verurteilung der DDR-SchriftstellerInnen Wolf, Seghers, Heym, Hein, Kant und Hermlin richtete.

Doch so weit kam er nicht. Reich-Ranicki forderte ihn auf, sich zu entfernen, er habe keine Lust, ihn zu Worte kommen zu lassen. Man müsse sonst die Sendung abbrechen, man unterhielte sich hier zu viert und eben nicht mit jedem. Doch der andere beharrte, friedlich und wohlerzogen, darauf, diesen Satz zu sagen, bei dem es darum gehen sollte, daß die Schriftsteller der DDR, die soeben kritisiert worden seien, in einer historischen Stunde glaubhafte Figuren... Und wieder war's um ihn geschehen.

Die Herren Ranicki und Karasek, denen peinvoll klar zu werden schien, daß ihre moralische Verurteilung dieses Verhaltens nicht ausreichte, riefen einen weiteren Herrn herbei und forderten ihn auf, den Eindringling sanft, aber gründlich zu entfernen, der legte die Hand auf des Störenden Schulter.

Was taten die Damen unterdes? Soweit die Kamera sie zeigte, schauten sie peinlich berührt zu Boden. Und blieben sitzen, und es ist zu hoffen, daß sich ihnen nicht nur das Nacken-, sondern auch das Schamhaar sträubte. Mit ihnen wartete das Publikum wohlerzogen die Abführung desjenigen ab, der gewagt hatte, in die erlauchte Runde einzudringen und aus einer verabredeten, herrschaftlich geführten Kommunikation eine unvorsehbare, also wirkliche zu machen. Herr Karasek rief dem endgültig Verbannten noch lässig hinterher: „Ihr Manuskript können Sie mir dann einreichen.“

Danach? Ging alles weiter wie vorher. Die Damen legten eine Schweigeminute ein, während die Herren in gewohnter Manier weiter parlierten, über Reden und Schweigen und Zivilcourage. Der Vorhang fällt, wir stehen betroffen, die Herren sind vor Macht besoffen.

Elke Schmitter