Warum ich nicht nach Deutschland fahre

■ Neben diesem Brief der amerikanischen Autorin, drucken wir heute noch Raymond Federmans Äußerung zum selben Thema ab

Cynthia Ozick

Lieber Professor X,

vielen Dank für Ihren Brief, in dem Sie mich einladen, nach Deutschland zu kommen und an einer Konferenz über die aktuellen „deutsch-jüdischen Beziehungen“ nach dem Holocaust teilzunehmen, die von einer Reihe bekannter jüdischer Amerikaner, darunter Sie selbst, angeregt und organisiert wurde und laut Briefkopf von zahlreichen führenden amerikanischen Persönlichkeiten und prominenten Deutschen guten Willens unterstützt wird. Ich wünschte, meine Antwort könnte einfacher ausfallen, als sie leider sein muß.

Lieber Professor X: Ich bin eine Jüdin, die Deutschland nicht mehr betritt, betreten kann und betreten will. Das ist ein ganz persönlicher moralischer Imperativ, nicht etwa ein Prinzip oder „Gesetz“, und es soll auch nicht für alle gelten, schon gar nicht für in Deutschland geborene Juden, die als Flüchtlinge oder Überlebende natürlich ganz andere Gefühle und Nöte haben als ich. Für mich wie für viele andere jüdische Amerikaner, die wie ich empfinden, ist die Entscheidung, nicht nach Deutschland zu fahren, eine der wenigen Arten, wie wir der Vergangenheit gedenken können, und es erscheint mir durchaus nicht überraschend, daß dieses Gedenken in diesem Zusammenhang die Form einer Negation, einer Abkehr annimmt.

Aber es gibt natürlich noch einen weiteren Gesichtspunkt, der hier vielleicht von noch größerer Bedeutung ist. Ihre Einladung, nach Deutschland zu kommen, ist die vierte derartige Einladung, die ich bekommen habe. Alle wurden mit den besten denkbaren Absichten ausgesprochen: eine deutsche Hand, die in friedvoller Absicht aus einem demokratischen Gemeinwesen heraus angeboten wird - eine erinnernde Hand, niemals eine vergeßliche. Die Hand einer „neuen Generation“. Je öfter diese Hand im Geiste der Erinnerung und Reue, im Geiste der Hoffnung und des guten Willens ausgestreckt wird, um so mehr verschließt sich ihr mein Herz.

Hier meine Gründe. Ich bin überzeugt, daß all das - das bewußte Erinnern dessen, was vor vier und fünf Jahrzehnten mit den jüdischen Bürgern Deutschlands und Europas geschah von der Natur der Sache her etwas ist, was allein und ausschließlich die Aufgabe der Deutschen ist. Es ist etwas, das die Deutschen selbst tun müssen, ist schließlich ein Akt der Befreiung (die Verarbeitung des Gewissens in Geschichte), der Emanzipation, und die einzige echte Emanzipation ist, wie wir von vielen nationalen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen her wissen, die Autoemanzipation, die Selbstbefreiung. Wenn sich die Deutschen also Gedanken machen über die deutsch-jüdische „Versöhnung“ oder - um einen weniger belasteten Begriff zu wählen - die deutsch-jüdischen „Beziehungen“, dann bin ich der Meinung, als müßten sie das alleine und für sich tun. Erscheint Ihnen das unmöglich oder sogar absurd? Eine Hand, die freundschaftlich jemandem angeboten wird, der gar nicht da ist? Wie lassen sich die „Beziehungen“ mit den Juden verbessern, wenn es gar keine Juden gibt? Nun, genau da liegt ja das Problem, wie ich meine. Europa hat heute nicht mehr das, was es einmal sein „Judenproblem“ nannte - das haben die Deutschen endgültig gelöst. Was bleibt, ist ein deutsches Problem - das anhaltende und vielleicht nie endende Problem des nationalen Bewußtseins der Deutschen -, und das Belastende daran ist, daß die Juden nicht mehr da sind.

Es scheint, was wohlmeinende Deutsche in der letzten Zeit unternommen haben - und zwar in zunehmendem Umfang mit der Unterstützung und Beratung jüdischer Organisationen in Amerika -, läuft darauf hinaus, das eigentliche Epizentrum des Problems zu umgehen, gleichzeitig aber immer mehr Beweise dafür anzuführen, daß sie sich damit auseinandersetzen. Es gibt keine im Lande geborenen Juden über fünfzig mehr, zu denen man in „Beziehungen“ treten könnte. Deutschland ist ein einziges jüdisches Museum mit Wohnungen und Möbeln, mit neubesiedelten alten Stadtvierteln, mit den alten Grabsteinen, die die Schändungen der Museumsfriedhöfe überstanden haben oder zu steinernen Panzerbarrieren aufgetürmt wurden. Allerdings fehlen die alten Synagogen, die zum größten Teil in Brand gesteckt wurden. Wenn heute ein altes Buch eines Autors aus den zwanziger Jahren auftaucht, dann weckt es antiquarisches Interesse als ein seltenes Stück, aber die Bücher von jüdischen Autoren wurden auf allen Marktplätzen verbrannt wer wüßte das nicht? Die Vorstellung vom Juden als einem erstaunlichen Relikt oder Anachronismus - in der Tat, als Museumsstück - scheint heute in Deutschland vorherrschend zu sein. Diese Tatsache wurde mir besonders daran deutlich, daß mir der Vertreter eines deutschen Verlages nach einer Begegnung in New York einen gutgemeinten Brief schrieb, in dem er meinte: „Die Zeit mit Ihnen war so ganz anders als andere Erfahrungen - es war wie der Besuch eines Museums.“

Die Deutschen versuchen dieses Dilemma - des Fehlens in Deutschland geborener Juden meiner Generation - dadurch zu lösen, daß sie sich so verhalten, wie es den Regeln des internationalen Wirtschaftssystems, dem Gesetz von Angebot und Verknappung, zu entsprechen scheint. Was soll man machen, wenn man durch eigene Schuld den eigenen (durchaus reichlichen) Vorrat an Juden erschöpft hat und es jetzt bereut? Man schickt einfach eine Bestellung nach Amerika ein Land, das seinen Vorrat an Juden nicht verschleudert, sondern im Gegenteil bewahrt und vermehrt hat - und importiert lebende Juden aus dem Ausland, um die im Inland fehlenden zu ersetzen.

Ich fürchte, daß alle diese Programme - bei denen sich die amerikanischen Juden (eingedenk der Ideale der Menschlichkeit, Versöhnung und Hoffnung für die Zukunft) bereitwillig als Ersatz für die ermordeten europäischen Juden anbieten - auf einem fundamentalen Mißverständnis und Irrtum beruhen und den Deutschen ohnehin nicht weiterhelfen können. Die Deutschen müssen ihre Erinnerung gerade unter den von ihnen selbst geschaffenen Bedingungen der Verknappung und des Fehlens einheimischer Juden aufarbeiten. Warum muß man eine amerikanische Schriftstellerin, eine jüdische Bürgerin der Vereinigten Staaten, für eine Konferenz zum Thema „deutsch-jüdische Beziehungen“ importierten? Nur deshalb, weil es in Deutschland selbst keine deutsch-jüdischen Autorinnen mehr gibt, die sprechen könnten. So ist man auf Surrogate aus dem Ausland angewiesen.

Ich habe jedoch den Eindruck, daß dieser Rückgriff auf Surrogate auf einem tiefgreifenden Irrtum beruht. Wer würde es wagen zu behaupten, daß auch nur einer der heute lebenden Juden eine Aussöhnung im Namen der Ermordeten ermöglichen oder auch nur als einfacher Mensch für sie sprechen könnte?

Also sollten die Deutschen, die guten Willens sind, es alleine und ohne Hilfe tun. Sie, nicht die jüdisch -amerikanischen Sponsoren, sollten die treibende Kraft hinter den Holocaust-Konferenzen auf deutschem Boden sein Konferenzen, die von Deutschen für Deutsche gemacht werden. Die Endlösung betraf die Juden, und Juden waren ihre Opfer, aber die Barbareien der Nazizeit sind keineswegs ein rein jüdisches Problem. Sie sind ein Problem der deutschen Kultur und durchaus ein angemessenes Thema für deutsche Institutionen und Konferenzen, die allerdings, wie ich finde, ohne die Unterstützung oder Mitwirkung ausländischer Juden auskommen sollten. In diesem Fall können und dürfen „Versöhnung“ und „Beziehungen“ keine Sache der Kollaboration sein - mit anderen Worten, keine Sache von Deutschen und Juden, an der beide gleichermaßen (oder auch in unterschiedlichem Maße) beteiligt sind. Wenn es wie Kollaboration aussieht, dann wird das Ganze zur Lüge. In Wahrheit gibt es niemanden, mit dem die Deutschen „kollaborieren“ könnten, es sei denn mit Phantomen - nämlich den fehlenden, den ermordeten Juden, die nicht mehr da sind.

Lebende amerikanische Juden sind als Surrogate untauglich. Vor dem Anschluß, vor ihrer Flucht aus Holland war Anne Frank eine deutsche Jüdin, und wenn die Deutschen nicht die Verbrecher und Programme unterstützt hätten, die sie ermordeten, dann wäre sie zweifellos zu einer der strahlendsten Figuren der deutschen Literatur geworden. Welche amerikanische Autorin könnte Anne Frank ersetzen, die als Jugendliche vergast wurde? Menschen sind kein Bauxit, und ein Haufen Juden ist nicht austauschbar mit einem anderen Haufen. Die Nazis verdinglichten die Juden und machten sie zu einem austauschbaren Haufen. Es ist in der Tat eine bittere Ironie, daß die Deutschen auch heute noch an der Austauschbarkeit einer Gruppe von Juden mit einer anderen festhalten, im Namen der „deutsch-jüdischen Beziehungem“, im Namen des guten Willens und in der Hoffnung auf mehr Menschlichkeit heute und in der Zukunft!

Genau darin liegt, wie ich finde, das Dilemma der Deutschen. Genau das ist es, was jene „besorgten Deutschen und Amerikaner“, die in Ihrem Briefkopf erscheinen, verstehen und akzeptieren müssen. Wenn amerikanische Juden nach Deutschland fahren, um zu „helfen“, d.h. um bei einer Holocaust-Konferenz die jüdische Seite zu vertreten, dann machen sie es damit den Deutschen keineswegs leichter, den eigentlichen Kern des Problems zu erfassen, daß nämlich die jüdische Seite eben nicht mehr vertreten ist; sie tragen im Gegenteil zu einer Verwirrung der Situation bei, weil sie dem tragischen und erniedrigenden Irrtum Vorschub leisten, daß Menschen austauschbar seien.

Es tut mit leid, so ätzende Worte sagen zu müssen. Ich habe lange über diese Dinge nachgedacht, und meine Sorge hat im Laufe der Jahrzehnte noch zugenommen angesichts der Tatsache, daß immer mehr jüdisch-amerikanische Organisationen in dem Bemühen um ähnliche Formen der Kollaboration nach Deutschland reisen. Übrigens erhielt ich am gleichen Tag, an dem Ihr Brief mich erreichte, ein Schreiben von einer deutschen Universität - den herzlichen, beeindruckenden, aufrichtigen Brief einer außerordentlich begabten jungen Doktorandin (zumindest nach ihren in sehr gutem Englisch formulierten intelligenten Äußerungen zu urteilen), die sich vor allem für die belletristische Literatur der amerikanischen Juden interessiert und meine Werke zum Thema ihrer Dissertation gemacht hat. Sie nennt sich selbst einen „Sonderfall“ im Hinblick auf ihre Auseinandersetzung mit jüdischer Literatur und beschreibt ausführlich ihre Familiengeschichte: „Mein Vater war siebzehn, als er Soldat wurde. Sein Vater war protestantischer Theologe und Superintendent in einer evangelischen Kirche. Obwohl der Vater meines Vaters schon in den dreißiger Jahren den Nationalsozialisten mit Mißtrauen gegenüberstand, dachte er doch patriotisch, und so schickte er vier seiner Söhne in den Krieg. Drei von ihnen sind gefallen.“ Drei tote Onkel. Diese Dickköpfigkeit bekümmert mich zutiefst. Allem guten Willen zum Trotz ist diese junge Frau (sie wurde 1955 geboren) offensichtlich unfähig zu verstehen, daß ein patriotisch fühlender Deutscher zumindest in seinem Herzen, wenn auch vielleicht nicht in seinen tatsächlichen (zugegebenermaßen damals vielleicht erzwungenen) Handlungen sagen konnte, daß es nicht patriotisch sei, für Hitler zu kämpfen, sondern ein Verrat an Deutschland. Und das von einem „protestantischen Theologen“ angesichts des herrschenden offiziellen Antisemitismus. Ich frage mich unwillkürlich, wen dieser Theologe wohl gewählt haben mag. War sein „Mißtrauen“ gegenüber den Nazis „in den frühen dreißiger Jahren“ Ausdruck einer unmittelbaren Besorgnis und Bedrohung oder war es nur die späte Enttäuschung darüber, doch die Falschen gewählt zu haben? Die junge Frau ist ihrer eigenen Aussage nach um intellektuelle Verarbeitung und Wiedergutmachung bemüht, und doch ist sie nicht in der Lage, die grundlegende Voraussetzung zu erkennen und zu verstehen, was Patriotismus bedeutet, nämlich etwas, was man für sich selbst und aus eigener Entscheidung für das Wohl seines Landes tut. Patriotismus ist vor allem der Traum von der Überwindung der eigenen Person. Es wäre für alle Beteiligten besser, wenn sie ihre Beschäftigung mit „jüdisch-amerikanischer Literatur“ aufgäbe und sich statt dessen mit dem auseinandersetzen würde, was ihr Großvater gedacht und empfunden haben mag.