: Ars longa vita brevis
Chronik eines unvollendeten Fußball-Jahrhunderts ■ WIR LASSEN LESEN
Wenn ich den letzten Goethe-Vers vergessen habe, werde ich den Eimsbütteler Sturm noch aufzählen können“ - einer der bündigsten und tiefsinnigsten Sätze, die je über den Fußball geäußert wurden - den Fußball der guten, alten Zeit, versteht sich. Heute dürfte es schon schwer sein, jemanden zu finden, der die Weltmeisterelf von 1974 fehlerfrei aufsagen kann, gar nicht zu reden von den Vizeweltmeistern 1982 oder 1986 (ja, die gab's wirklich!).
Fußball in den ausgehenden achtziger Jahren ist Alltagsware geworden, allgegenwärtig, jederzeit reproduzierbar, ein Medienprodukt wie Wetten, daß..., Lindenstraße oder Becker-Edberg, austauschbar, oberflächlich und oft todlangweilig. Was ihm fehlt, ist die geradezu magische Anziehungskraft, die das muntere Spiel mit dem runden, ungehorsamen Leder ausübte, als die Bälle noch braun, die Schuhe verschlissen und die Tore aus Holz waren.
Das obige Zitat des Tübinger Rhetorik-Professors Walter Jens steht am Anfang eines Buches, das diese glorreichen Kickertage noch einmal lebendig werden läßt: Jahrhundert -Fußball im Fußball-Jahrhundert. Einige der fähigsten zeitgenössischen Sportjournalisten ziehen in diesem gediegen gestalteten Werk eine, wenn auch etwas verfrühte Bilanz dessen, was sich in diesem Jahrhundert in den Stadien und über deren Rand hinaus abspielte.
Das Buch läßt die Zeit von 1954 lebendig werden, als eine ganze Nation über den Äther mit den Lippen des im Wankdorf -Stadion zu Bern befindlichen Herbert Zimmermann verbunden war. Dessen überschnappendes Torgebrüll ließ die Wohnstuben landauf, landab erbeben, Triumphgeheul eines reanimierten Chauvinismus und Geburtsschrei des bundesdeutschen Wirtschaftswunders zugleich. Wir werden zurückversetzt in eine Ära, als die einzige Möglichkeit, ein Fußballspiel zu sehen, noch der Gang ins Stadion war und kleine Jungen wie der Eimsbütteler Bub Walter Jens die ganze Woche lang dem Auftritt ihrer Halbgötter entgegenfieberten.
Neben der Pflicht - Weltmeisterschaften, Länderspiele, Europacup, Bundesliga, Porträts großer Stars und Trainer sind es vor allem sorgsam ausgewählte Randgeschichten, Episoden und Anekdoten, die den besonderen Reiz dieses reich bebilderten Buches ausmachen. Die einfühlsame Erzählung der tragikomischen Karriere des „bunten Vogels“ Garrincha aus Brasilien etwa, oder die hautnahe Schilderung des wichtigsten Spiels im Leben von Fritz Walter, das keineswegs das WM-Finale 1954 war, sondern ein Spiel in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, welches ihm den Weg in die Freiheit ebnen sollte.
Ein anderes Highlight ist die Geschichte eines 18jährigen Primaners aus Frankfurt, der allein nach Basel reiste, um ein Länderspiel zu bestreiten, ein Tor schoß und seinen gepumpten Smoking beim Bankett mit Senf bekleckerte. Es handelte sich um Fritz Becker, der 1908 im ersten Länderspiel der Nationalmannschaft beim 3:5 gegen die Schweiz das allererste Länderspieltor für Deutschland schoß. Es blieb der einzige internationale Auftritt von „Beckerchen“. Wahrscheinlich hatten ihm die Kosten für die Reinigung des Smokings die Lust am Torschuß gründlichst vertrieben.
Daß das Fußball-Jahrhundert reichlich Schattenseiten aufwies, wird nicht verschwiegen. Eine Chronologie der Katastrophen in den Stadien der Welt von Glasgow 1902 (25 Tote bei einem Tribüneneinsturz) bis Sheffield 1989 (95 Tote bei Tumulten) und Ulfert Schröders Bericht von 1985 aus dem Brüsseler Heysel-Stadion sorgen dafür, daß die Idylle nicht überhand nimmt.
Der Faszination, die das Buch aus tiefer Vergangenheit heraufbeschwört, tut auch die Erinnerung an die schwarzen Tage keinen Abbruch. Über das von Walter Jens ins Spiel gebrachte Spannungsverhältnis zwischen Goethe und Fußball kann allerdings selbst dieses Jahrhundertwerk keinen endgültigen Aufschluß geben. Einer Synthese am nächsten kommt wohl der salomonische Hans Blickensdörfer: „Bei Endspielen um die Weltmeisterschaft sollen heute Milliarden zuschauen, viele, viele mehr, als je den Faust seit seiner Uraufführung gesehen haben. Mancher mag das bedauern, zu ändern ist es nicht. Im übrigen kann man natürlich auch den Faust lieben, ohne den Fußball zu verachten.“ Ars longa vita brevis - aber ewig währt der Eimsbütteler Sturm.
Matti
Dieter Reiber (Hrsg.): Jahrhundert-Fußball im Fußball -Jahrhundert. GfU Verlag, Abendrotstr. 5, 8501 Schwaig 1, 1989. 240 Seiten, 450 Fotos. Preis: DM 89,50.ISBN 3-9802290 -0-9.
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