Fünf nach zwölf - zu spät ist es noch nicht

Rundgang durch die politische Kultur Prags / Die Spezies der Parteigrauen will retten, was zu retten ist / Euphorie gibt es in der Bevölkerung keine, aber ist das gleich „kollektive Vernunft“? / Die „stone-washed„-Generation traut der KP nicht mehr  ■  Aus Prag Klaus-Helge Donath

I want to break free der Gruppe „Queen“ tönt aus dem Prager Rundfunk. Die Moderatorin kommentiert es mit „die richtige Musik zur richtigen Zeit“. Gefolgt von dem Song Invisible Man. Hier bereits hat ihr Gespür sie verlassen. Denn es wird nicht der unsichtbare Mann sein, der die Geschicke der CSSR zukünftig leitet, sondern die „invisible hand“ eines Adam Smith, jene transzendentale Ratio des Marktes.

Einer ihrer zukünftigen Verfechter ist Dr.Klaus vom „Prognose-Institut der Akademie der Wissenschaften“. In den herrschaftlichen Räumen, die einmal das Refugium eines höheren K.u.k.-Offiziers gewesen sein werden, herrscht hektische Betriebsamkeit wie in einem Wahlkampfbüro. Klaus empfängt in seinem Arbeitszimmer, wo sich auch der Koordinationsausschuß des studentischen Streikkomitees niedergelassen hat. „15 Minuten und nicht länger“, signalisiert er gleich zu Anfang.

Der Ökonom ist der heimliche Star des oppositionellen „Bürgerforums“. Das weiß er auch. Für Regierung und Partei avancierte er zum wichtigsten Ansprechpartner. Aus seinem wirschaftspolitischen Credo macht er denn auch kein Hehl: Markt, Markt und nochmal Markt, flankiert durch eine strikte monetaristische Politik. Bei dem Namen Keynes verzieht er nur den Mundwinkel, und von Ota Sik, dem geschaßten Architekten der Wirtschaftsreform der sechziger Jahre, hält er auch nicht sonderlich viel. Was er hier von sich gebe, sei nur seine eigene Meinung, für eine inhaltliche Diskussion hätte die Zeit im Bürgerforum noch nicht gereicht. Eins ist aber klar, in dem Vakuum politischer Verantwortung in Prag wird gerade jetzt Politik gemacht.

Es klopft an der Tür, die erwartete Regierungsdelegation ist eingetroffen. Nun hat Klaus doch noch fünf Minuten Zeit, und er genießt es, der „Friedman von der Moldau“, wie ihn kürzlich eine amerikanische Zeitung titulierte. Die Vertreter der Noch-Regierung warten im Vorzimmer, das wird neu für sie sein. Allesamt tragen sie das Einheitsgrau der Partei, darüber einen dunklen Mantel. Nervosität steht in den Gesichtern der Delegation, als wir das Arbeitszimmer verlassen. Nach einem letzten Zug an seiner Zigarette drückt einer von ihnen sie fahrig aus und stürzt beflissen auf den Phönix aus der Asche.

Die gleiche Spezies, allerdings in Variationen, wartet auf uns im Pressezentrum der KPTsch. Nach den Medienerfolgen der Opposition sah sich auch die Partei gezwungen, ihre Öffentlichkeitsarbeit zu verstärken. Wir sind die ersten, die sie in ihrem Zentrum an der Celetna, direkt gegenüber der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität, aufsuchen. Auch hier dominiert das graubetuchte beste Mannesalter. Einer ihrer jüngeren Vertreter, adrett und smart, nimmt sich unserer an. Zuvorkommend, fast eifrig. Nach kurzem Beschnuppern plaudert er sofort aus dem Nähkästchen. Die Ratlosigkeit scheint Offenheit zu befördern. Mit Blick auf die Wahlen sei die entscheidende Frage, wie man mit den Karrieristen und den Altkommunisten umgehe. Sich ihrer entledigen? Ist das die richtige Strategie? Hätte die KP dann mehr Chancen? Eine Antwort darauf kann er nicht erwarten. Dann greift er zum Telefon, um einen höheren Gewerkschaftsfunktionär für ein Interview zu besorgen.

Der Presseraum hat etwas für Prag wohltuend Puristisches. Weißer Putz, hinter diesem eine Wand, freigelegt, mit Blick auf gotische Fensterbögen, die zu dem ehemaligen Kloster gehören. Dem gegenüber hängen die Konterfeis der Klassiker. Unter ihnen auch Klement Gottwald. Ein Gefolgsmann Stalins, der zwischen 1951 und 1953 zahlreiche Genossen ans Messer geliefert hat. Selbst von ihm hat sich die Partei noch nicht trennen können. Wie soll man ihr dann das Reformbekenntnis abnehmen? Nach zehn Minuten bricht der Pressesekretär sein Telefonat ab: „Keiner bereit!“ „Warum nicht?“ Ein fast zynisches Lächeln schleicht über seine Lippen: „Die stecken im Verfall, da will doch keiner mehr drüber reden.“

Reden dagegen will das „Demokratische Forum“ (DF), eine Plattform, die sich innerhalb der KP vor einer Woche gegründet hat. Einer ihrer Initiatoren ist der ehemalige Sekretär des Kommunistischen Jugendverbandes, das neue Politbüromitglied Mohortea. Das DF fordert neben einer sofortigen Einberufung eines Sonderparteitages die völlige Rehabilitation aller Opfer der „Normalisierung“. Aber das gehört mittlerweile schon zum Standard auch der Partei. Worin sich beide unterscheiden, ist die Forderung, die Arbeitermilizen aufzulösen. Die KPTsch konnte dem bisher nicht zustimmen. Über 20.000 Aufnahmeanträge sollen in den letzten Tagen beim Forum eingegangen sein. Einer ihrer Sprecher sieht darin bereits „die Chance, sich zu einer demokratischen Massenbewegung zu mausern“.

Und noch eine andere Gruppe in der Partei stellte sich der Öffentlichkeit. Der „Klub der marxistischen Intelligenz“. Ihm präsidiert der Chefredakteur der Wochenzeitung 'tvorba‘, Ivan Matejka, die sich diese Woche finanziell und rechtlich aus den Fängen der Partei lösen will. Ein Jungbrunnen marxistischen Philosophierens soll es werden, in dem „alle Platz haben, die es über die Jahre nicht verlernt haben, unabhängig zu denken“. Grundlage soll das Konzept eines pluralen Marxismus sein. Und für die nächste Woche hat sich eine weitere Initiative angekündigt mit dem Namen „Prager Dialog“, die aus den Prager Kreisverbänden entstanden ist.

Ob dieses Manöver oder auch ehrliche Erneuerungsversuche bei der heutigen Jugend auf Widerhall stoßen, daran zweifelt auch die Partei. Die Jugend der Hauptstadt ist eine Generation der „Levi's 501, pre-shrunk and stone-washed“, und zudem erstaunlich selbstbewußt. Voller Verachtung sprechen sie von der Partei. Und sie waren es schließlich auch, die ihren Eltern noch zu einer Revolution verholfen haben.

Die Videos über ihre Schlacht am 17.November mit den Sicherheitskräften laufen überall in Prag, selbst im Vorprogramm zum Kinoschinken „Dirty Dancing“, in Schaufenstern, Kaufhäusern und Restaurants. Aus Boxen peitschen Sprechchöre und Schreie der Geschlagenen auf die Straße. Vor ihnen bilden sich Menschentrauben, auch noch bei der schneidenden Kälte des kontinentalen Winters. Selten aber zeigen die Zuschauer eine Reaktion. Viele von ihnen laufen stumm weiter und zünden auf einem der zu hunderten in der Innenstadt angelegten „Gedenkaltären“ eine Kerze an. Schon zentimeterdick ist der Teppich aus Wachs, übersät mit Blumen, Fahnen und Parolen, meistens Verwünschungen der Partei. Auch eine Spieluhr findet sich da, ihre Zeiger stehen auf fünf nach zwölf. Doch das spiegelt nicht die Stimmung der Bevölkerung wider. Denn zu spät ist es noch nicht. Aber Mäßigung scheint das Leitmotiv, als gebe es tatsächlich diese kollektive Vernunft.

Mit ernster Miene mahnte der neue Pressesprecher des Politbüros, Ora, auf einer Konferenz vor Übergriffen der Bevölkerung auf Parteimitglieder und ihre Angehörigen. Kinder seiner Genossen seien mißhandelt worden. Das können nur Einzelfälle gewesen sein, es entspricht in keine Weise der Ruhe und Nachdenklichkeit auf den Straßen. Selbst die Opposition, die sich noch einmal ihre Erfolge bestätigen läßt, bricht nicht in Festtagsstimmung aus. Nichts Überschwengliches. So als sei es normaler Vollzug. Ora wirkte denn auch betreten danach. Mit Rührseligkeit und falscher Sentimentalität, das muß auch er gemerkt haben, lassen sich die Kastanien nicht mehr aus dem Feuer holen. Vielleicht ist die Zurückhaltung seiner Landsleute sogar ein stilles Schuldeingeständnis, jahrelang mitgelaufen zu sein. Die Therapie ihrer gesellschaftlichen Pathologie steht noch aus.

Es gibt aber auch schon den anderen Typ, den „blafouni“, wie die Maulhelden auf tschechisch heißen, die nachträglich schon immer auf der richtigen Seite gestanden haben. Über sie wird laut geredet in den Gaststuben der Stadt, wo das Bier nur literweise konsumiert wird. Einer von ihnen ist der Vorsitzende der „Sozialistischen Partei“, Kucera. Seine Blockpartei hielt der KP durch dick und dünn die Treue. Seit Monaten versuchten er und das Parteiblatt 'Svobogni Slovo‘ sich als zukunftsträchtige Reformer zu profilieren. Mehrere tausend Mitgliedschaftsanträge sollen in der Parteizentrale eingegangen sein, vor allem jüngerer Leute. Ob da was dran ist, weiß hier keiner so genau. Die massive Metalluhr im Konferenzraum der Partei am Platz der Republik war jedenfalls kurz nach zwölf stehengeblieben.