Hessen: Durchbruch zu Europa

Abkehr von der „anti-europäischen Linie“ der grünen Partei gefordert  ■  Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Rüsselsheim (taz) - Daß vor dem Eingang zur Rüsselsheimer Stadthalle sowjetische Fahnen im eisigen Dezemberwind flatterten, hatte nichts mit dem dort stattfindenden Parteitag der hessischen Grünen zu tun: Das Restaurant der Tagungsstätte bot unter der Überschrift „Sowjetische Woche“ russische Spezialitäten an.

Die Grünen in der Stadthalle schienen allerdings zunächst keinen Appetit auf scharf Gewürztes aus der Ostküche zu haben: Während der feurigen Rede eines Ungarn, mit der die deutschlandpolitische Debatte der Grünen eingeleitet wurde, führten die rund 250 anwesenden Parteimitglieder mehrheitlich Privatgespräche oder lasen Zeitung. Die Grünen hätten der euphorischen Aufbruchstimmung in Osteuropa, die „politische Gestaltungschancen von historischen Ausmaßen“ (Hubert Kleinert/MdB) berge, nur eine „schlappe Stimmung“ entgegenzusetzen, hielt Udo Knapp dem Auditorium verärgert vor.

Knapp forderte die Partei auf, in der Deutschland- und Europapolitik neue Akzente zu setzen und bestehende Dogmen zu schleifen. Eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten sei nur im europäischen Rahmen vorstellbar, doch die Europapolitik der Grünen habe bislang „anti-europäische“ Züge getragen. Hubert Kleinert insistierte auf eine gesamteuropäische Friedensordnung - unter dem Primat des souveränen Entscheidungsrechts der Menschen auch in der DDR. Kleinert: „Die Grünen haben die Aufgabe, sich der nationalistischen Welle entgegenzustellen.“

Hart ging dann Daniel Cohn-Bendit mit seiner Partei ins Gericht: Während die Menschen in Osteuropa mit heißem Herzen ihre Länder in gewaltfreien Revolutionen umgestalteten, präsentierten sich die Grünen erstmals in ihrer Geschichte als „rationale, kalte Partei“, die die Reformbewegungen im Osten alleine gelassen habe. Den Polen habe man ihren Hang zum Katholizismus vorgeworfen und den Ungarn und Tschechen den „kapitalistischen Weg“. Und jetzt starre die Partei wie gelähmt auf die Entwicklungen in der DDR, in der Hoffnung, daß sich dort einmal der „bessere Sozialismus“ etabliere. Es gebe keine Alternative zu einem europäischen Staatenbund unter Einschluß der osteuropäischen Länder - „und keine Wiedervereinigung ohne Auflösung der Nationalstaaten“.

Als es dann ans Abstimmen ging, fand der deutschlandpolitische Leitantrag von Landesvorstand und Landtagsfraktion der hessischen Grünen eine satte Mehrheit, der den Thesen von Cohn-Bendit Rechnung trug: „Die Grünen wollen ein dezentrales und wahrhaft vielfältiges, multikulturelles Europa mit politisch und kulturell starken Regionen.“