Die SED-Basis verjagt die Wendehälse

■ Politbüro und ZK geschlossen zurückgetreten / Krenz räumt seinen Platz, Honecker und Mielke ausgeschlossen, Mittag und Tisch verhaftet, Schalck-Golodkowski mit Devisen untergetaucht / Provisorischer Arbeitsausschuß soll SED bis zum Parteitag führen

Berlin (taz) - Es hat sich ausgewendet. Die SED-Basis hat die Selbstauflösung ihrer Führung durchgesetzt: Das gesamte SED-Zentralkomitee trat gestern nachmittag samt Politbüro geschlossen zurück. Egon Krenz räumte den Platz des Generalsekretärs - er bleibt noch nicht einmal kommissarisch im Amt. Erich Honecker und andere Repräsentanten der alten Führung wurden aus der SED ausgeschlossen, und: „Flüchten!“ lautete die Devise des mit Haftbefehl gesuchten Valuta -Beschaffers Schalck-Golodkowski. Eine provisorische Parteiführung - der „Arbeitsausschuß“ - wird die Geschäfte bis zum Parteitag am 15.Dezember weiterführen.

Der Totalrückzug der ehemaligen Avantgarde bedurfte nur „relativ kurzer Beratung“, so Parteisprecher Günther Schabowski. Das erst Anfang November gewählte Politbüro sei nicht in der Lage gewesen, das ganze Ausmaß und die Schwere der Verfehlungen von ehemaligen Politbüromitgliedern aufzudecken und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Es mußte zurücktreten, um die SED nicht zu gefährden, sagte Schabowski. Das ZK seinerseits habe festgestellt, daß der Prozeß der radikalen Erneuerung der Partei „von der Basis her rasch voranschreitet“. Dies hätten die Kreisdelegiertenkonferenzen in Vorbereitung des Parteitags eindrucksvoll erwiesen - so war z.B. Krenz erst nach stundenlanger Beratung von seinem Heimatkreis Ribnitz -Damgarten nominiert worden. Unter dem Eindruck der Volkskammer-Enthüllungen über Korruption und Amtsmißbrauch hatten am Abend zuvor Tausende von Parteimitgliedern vor dem ZK und in den Bezirken den sofortigen Rücktritt der alten Führung verlangt.

Die Namen der ausgeschlossenen Genossen sind gewichtig und taugten gut als Ballast, der abgeworfen werden konnte. Neben Honecker verloren unter anderem Exministerpräsident Willi Stoph, Ex-Stasi-Chef Erich Mielke, der ehemalige Präsident der Volkskammer Horst Sindermann, die Politbüromitglieder Werner Krolikowski und Günther Kleiber ihre Parteibücher. Der erst kürzlich gewählte Benjamin im Politbüro, Hans -Joachim Willerding, hatte schon am Samstag seinen Rücktritt als Kandidat des Gremiums erklärt, um nicht mit den Alten hinabgezogen zu werden.

Nach der Öffnung der SED-Jagdgründe wurde jetzt auch die alte Garde zur Jagd freigegeben. Nach dem Staatssekretär im Außenhandelsministerium, Alexander Schalck-Golodowski, wird von der Generalstaatsanwaltschaft gefahndet. Der bisherige Chefdevisenbeschaffer steht unter dem Verdacht, über die Rostocker IMES-GmbH, deren kommerzieller Koordinator Fortsetzung auf Seite 2

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er war, Waffengeschäfte mit Nahost, Afrika und Südamerika betrie-ben zu haben. Die Erlöse seien bei der DDR-Staatsbank eingezahlt worden, über ihren Verbleib sei nichts bekannt. Einwohner hatten in einem Gebäude der staatseigenen IMES -GmbH Handfeuerwaffen, Lastwagen und Munition entdeckt.

Außerdem soll der - mittlerweile seines Amtes enthobene Staatssekretär Devisen in Milliardenhöhe auf Schweizer Nummernkonten gebracht haben. Nach Angaben seines Anwalts Wolfgang Vogel ist Schalck-Golodkowski inzwischen seinen Schätzen hinterhergereist: nachdem er am Samstag noch in Bonn Wirtschaftsgeschäfte betrieben hatte, meldete er sich gestern von einem unbekannten Ort außerhalb der DDR.

Pikanterweise hatte Innenminister Lothar Ahrendt am Freitag erklärt, die DDR sei zu einem Rechtshilfeabkommen mit der Bundesrepublik bereit. Ohne Rechtshilfeabkommen wäre Bonn nicht gezwungen, Schalck auszuweisen, falls dieser im Bundesgebiet gefaßt würde.

Schalcks Vorgesetzter, das ehemalige Politbüro-Mitglied Günther Mittag, wurde am Samstag verhaftet, ebenso wie der frühere FDGB-Vorsitzende Harry Tisch. Beiden wird Mißbrauch ihrer Funktion und Schädigung der Volkswirtschaft vorgeworfen. Mittag war von Willi Stoph beschuldigt worden, die DDR durch gefälschte Bilanzen in den Ruin getrieben zu haben. Ebenfalls wegen Machtmißbrauch wurden auch die ehemaligen 1. SED-Sekretäre der Bezirke Erfurt und Suhl, Gerhard Müller und Hans Albrecht, festgenommen.

smo