Der Übermensch ist männlich

Der hier abgedruckte Text sollte am 17. November als Eröffnungsreferat beim „Perspektiven-Kongreß“ der Grünen in Saarbrücken gehalten werden / „Wegen der historischen Umbrüche“ sahen sich die Grünen aber „zur aktuellen Reaktion“ gezwungen: sie sagten der Autorin und anderen eingeladenen Feministinnen ab  ■  Von Christina Thürmer-Rohr

Ich erachte mich nicht als kompetent, mich zu „Perspektiven“ grüner Politik zu äußern, jedenfalls nicht in einem auf schnelle Anwendung bedachten Sinne. Dazu fehlen mir die Innenansichten dieser Partei. Ich äußere mich hier aus der Perspektive einer Zeitgenossin, die die Fragwürdigkeit dieses „Zeitalters der unvorhergesehenen Folgen„1 immer wieder aus den Grenzen des eigenen Fachgebiets heraustreibt.

Die Konfrontation mit einer politischen Bewegung in der DDR, die uns mit Begeisterung und Spannung erfüllt, aber auch mit Skepsis und unzähligen offenen Fragen, die Konfrontation mit Menschenmassen, die unsere Distanz zur eigenen Gesellschaft und deren Gütern und Werten oft wenig nachzuvollziehen scheinen, die Konfrontation mit der Peinlichkeit und Arroganz einer westlichen Spendergeste und gleichzeitig mit dem Ausblenden von Armut, Ausbeutung, Aussonderung und Resignation im eigenen und durch das eigene Land, die gehorsame Unterordnung der eigenen Fragen unter das deutsch-deutsche Thema: Das alles bedeutet eine kaum dagewesene Herausforderung an unser Denken, unser Verhalten, unsere politische Arbeit. Der prompte Schwund der eigenen Fragen, die Beißhemmung im Kopf enthüllen nicht nur Irritation und Ratlosigkeit, sondern auch Opportunismus, schlechtes Gewissen und Inkompetenz. Gerade jetzt auf der eigenen Kritik zu bestehen, ist somit auch kein Fall von Privilegiensicherung.Denn die Kritik, um die es hier geht, ist nicht dazu angetan, Privilegien zu vermehren.

Eine Beleidigung der Helden vom November

Symptom einer intakten Männerherrschaft ist die vollkommen fehlende Patriarchatskritik in West und Ost, von rechts bis links, von Männern bis zu den meisten Frauen. Es sei das Machtmonopol einer Partei, nicht ein Männermachtmonopol, das Stalinismus, Schießbefehl, Betriebskampfgruppen, Staatssicherheit, Wirtschaftsruin und Naturzerstörung zu verantworten habe. Es seien die alten Männer oder Betonköpfe, nicht Männer, nicht Täter eines Geschlechts. Es ist das Volk, das eine Revolution macht. Und ein Teil dieses Volkes drängelt sich bereits vor den westlichen Peepshows und Pornoheftchen. Dieses nicht nur als Bagatelle am Rande zu bezeichnen, vielmehr als Symptom für Strukturelles, trifft dort wie hier auf Unverständnis: Ein Sakrileg, eine Beleidigung der Helden des deutschen Novembers.

Mir geht es nicht darum, ungerechtfertigt zu verallgemeinern, Menschen zu diffamieren oder mit der eigenen Sicht zu gängeln. Zunächst sei nur festgestellt, daß Worte wie „Freiheit“ und „Demokratie“ einem weiterhin immer wieder im Halse steckenbleiben, daß das Wort „Volk“ - nach flüchtigen Anwandlungen von Naivität - seinen mitreißenden, seinen strahlenden, majestätisch-revolutionären Sound nicht hält und sich wieder mit recht realistischen Befürchtungen verbindet. Mir geht es darum, gerade heute eine umfassende Patriarchatskritik einzufordern, von Männern und Frauen, gerade jetzt, wo die deutsch-deutsche Thematik wichtigere Fragen stellen zu müssen scheint.

Was soll Freiheit heißen, heute und für wen? Der Begriff Freiheit, dieser große Gedanke: Sollte die westliche Zivilisation sich endlich mit Scham oder Wut von ihm verabschieden und ihn einer aufklärerischen Vergangenheit der großen Worte überlassen? Oder den Brüdern aus Ost- und Mitteleuropa, die ihn gerade mit neuer Hoffnung füllen und denen wir ihn nicht mit der mahnenden Geste der Besserwisser/innen vermiesen wollen? Hat die westliche Risikogesellschaft als erste das Recht auf die Idee verspielt? Oder hat sie die Kraft zur Freiheit verloren? Können wir überhaupt noch ermessen, was Freiheit heißen könnte im Wissen um die Folgen, die ein Freiheitsbegriff im bürgerlich-patriarchalen Gewand mit seiner Devise der Selbstbereicherung und seiner Vorstellung vom progressiv sich emanzipierenden Individuum Mann angerichtet hat: Forschungsfreiheit bis zur Genmanipulation und Atomwirtschaft, Veröffentlichungsfreiheit bis zu immer neuen Freiräumen der Darstellung von Gewalt, freien Zugriff zur Natur bis zu ihrem Ruin, freien Tourismus bis zur Verhunzung und Zerstörung von Ländern, Kulturen und Landschaften, freie Entfaltung der Persönlichkeit bis zur freien Fahrt auf der Avus.

Patriarchatskritik als zentrale Ausgangsfrage

Auf beiden Seiten ist die Rede von der nationalen Frage, der Selbstbestimmungsfrage, der Staatsfrage, der Wirtschaftsfrage, der Friedensfrage.2 Und unter dem Dach dieser allgemeinen Formeln taucht jede patriarchatskritische Analyse und Politik bestenfalls zur Nebenfrage ab, zur letztrangigen Addition. Die sogenannte Frauenfrage und die Ökologiefrage aber sind keine, die den zuvor genannten lediglich hinzugefügt werden müßten, damit der Katalog vollständig sei. Vielmehr bilden sie den Kern des Existenzproblems, vor dem wir stehen. Die Ausbeutung von Frauen und Natur sind Basis und Konsens der Geschichte dieser Kultur, die sich ihre ideologischen und technologischen Mittel und ihre ökonomischen Systeme schaffen konnte, um das abendländische Vergewaltigungsgebot des „Macht-euch-die-Erde-untertan„3 Zug um Zug zu erfüllen. Patriarchatskritik bedeutet, sich diese Geschichte der Ausbeutung und Zerstörung vorzunehmen, heißt Entsolidarisierung des weißen Mannes von seinen Bündnissen der Gewalt und Anmaßung und seine konsequente Absage an alle Formgebungen, die einer solchen historischen und gegenwärtigen Politik entstammen, vom Militär über Großforschung bis zum Geschäft mit Frauen, von der geschlechtlichen bis zur internationalen Arbeitsteilung. Und Feminismus bedeutet Patriarchatskritik aus der Perspektive derjenigen, die aus dem „Subjekt“ dieser Geschichte ausgeschlossen und dennoch für sie unentbehrlich waren und sind, die Frauen. Ohne Patriarchatskritik, die den Zusammenhang von Frauenausbeutung und Naturausbeutung als historischem Erbe dieser Kultur begreift, bleiben alle gegenwärtigen Reformen und Reparaturen bodenlos. Patriarchatskritik setzt uns nicht nur in Widerspruch zu den Normen der kapitalistischen und denen der uns bislang vorgeführten sozialistischen Industriegesellschaften, sondern auch in Widerspruch zu Teilen politischer Bewegungen, die das Ziel haben, die letzteren zu reformieren. Patriarchatskritik ist nicht Ausdruck dekadenter westlicher Kultur, sondern stellt die Ausgangsfrage aller weiteren Fragen.

Die weiße Herrenrasse hat die eigene Gattung und Teile der sogenannten Natur zum Todeskandidaten ihrer selbst gemacht. Dieser Mensch kann seine Abschaffung und die Abschaffung von Lebewesen, die sich gegen sein Treiben nicht wehren können, bewerkstelligen mit Hilfe seiner Erfindungs- und Gewaltsysteme, die nicht von „der Geschichte“ und keineswegs von fremdartigen Monstergruppen heimlich und bösartig den Gutartigen aufgezwungen worden sind, sondern die mit legalen Mitteln in aller Öffentlichkeit, unter fleißiger Begleitung durch wissenschaftliche Prognosen, unter Billigung von vom Volke frei gewählten Parteien und unter Beobachtung oder Mitbeteiligung von Millionen mündiger Bürger und Bürgerinnen gefördert und verbreitet werden.

Repräsentanten der männlichen Monokultur bezeichnen das derzeitige Ergebnis der Evolution unserer Gattung als „übermenschlich„4, oder sie kündigen die Gattungsloyalität auf und boykottieren die würdige Bezeichnung Mensch zugunsten der des „Untiers„5. Dieses „Wir“, vom technologischen Übermenschen bis zum anthropofugalen Untier, veranlaßt mindestens zu zwei Fragen. Erstens: Welche Freiheiten sollte sich ein solches Subjekt „Wir“ eigentlich zugestehen? Denn so, wie es seine eigenen Unverantwortlichkeiten und sein geheimes Euthanasieprogramm selber beschreibt, gehörte es eher unter Verschluß als freigesetzt. Und zweitens: Wen schließt das Wir ein? Das „Übermenschentum“ ist wohl weder Geschenk noch Fluch der Frauen; ihre Mitgift ordnet sie dem genannten Wir nicht zu, jedenfalls nicht so schnell und nicht so einfach.

Flucht in die Unbelangbarkeit

Freiheit kann nur heißen, die Freiheit zu haben, andere Wege zu gehen als bisher. Und dem sind Revolutionen des Bewußtseins vorausgesetzt. Einer ihrer Bestandteile wäre, den technologischen oder den sonstwie expandierenden, kolonialisierenden, arbeitsteilenden, gewaltausübenden „Übermenschen“ als das zu kennzeichnen, was er ist, nämlich als männlich. Dies festzustellen, ist weder eine sexistische Diskriminierung noch eine bloße Meinungsäußerung. Patriarchatskritik heißt nicht, alle Menschen über zwei Leisten halbieren zu wollen oder dem Mann seine Biologie zu verübeln, vielmehr beiden Geschlechtern ihre Ignoranz: Ignoranz gegenüber einem Herrschaftsverhältnis, dessen Niederschläge die äußere und die innere Realität beider Geschlechter zutiefst bestimmen. Die Flucht in die Unbelangbarkeit6 treten sie beide an, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Mitteln.

Die Frau in dieser Kultur ist weder in dem defätistischen „Wir“ noch im „Wir“ der technologischen Glanzleistungen mit ihren Licht- und Schattenseiten enthalten. Die schnelle Eingemeindung in ein Wir der Schuld oder ein Wir des Stolzes ist für Frauen, auch wenn sie wollten, historisch unzulässig. Das enthebt sie aber nicht der Verantwortung. Als weiße Frau des weißen Mannes profitiert sie von vielen Früchten männlicher Anstrengungen ebenso, wie sie unter ihnen zu leiden hat, und hat sich nicht das Recht erworben, ihr Abseitsstehen mit dem moralischen Privileg der Unschuld zu verbinden. Die Frau hat ihren spezifische Beitrag zur patriarchalen Norm geleistet, vor allem den Beitrag zur Freisetzung des Mannes, in welche Richtung auch immer. Auch den Beitrag der geringen Dissidenz, des schwachen Einspruchs, einer trotz aller formalen Rechte weiterhin und nicht ohne Grund so weithin unsichtbar, zerbrechlich und wirkungsarm bleibenden Kritik.

Jedenfalls, das Einmaleins eines patriarchatskritischen Bewußtseins ist die Absage an ein Wir, das permanent die unterschiedliche Geschichte und die unterschiedlichen Schäden von Männern und von Frauen und damit auch die unterschiedlichen Folgen für das, was sie zu verantworten haben, verdeckt. Wenn Männer weiterhin behaupten, Patriarchatskritik sei Frauensache, so bestätigen sie damit in nicht zu überbietender Klarheit ihre Bereitschaft zur Unverantwortlichkeit. Sobald das Wort Patriarchat fällt, bleiben oder hören Männer weg, so als handele es sich um eine intime Angelegenheit von Frauen: Eine absurde Geschichte, aber eine ganz machtlogische. Hier geht den Männern ihre sonst so hochgeschätzte Abstraktionsfähigkeit abhanden. Beim Stichwort „Frau“ scheinen sie an ihre Freundin zu denken, beim Stichwort „Mann“ an ihre Potenzprobleme, beim Stichwort „Patriarchat“ an den lieben Gott, den es nicht mehr gibt. Ähnlich verfahren viele Frauen. „Die Frau in der Männergesellschaft“ heißt „Ich und mein Freund“, und wenn diese beiden einigermaßen zurechtkommen, dann scheint damit auch die Frage vorerst erledigt.

Das Patriarchat ist keine Privatsache

Die Neigung, ein historisches und gesellschaftliches Problem zur Privatsache zu verkleinern, es an die Frau als zuständig für Privates zu delegieren, es damit zu entpolitisieren, zu verniedlichen, es schließlich vollkommen zu verwischen und aus dem Bewußtsein zu nehmen, ist wohl bei kaum einem politischen Sachverhalt so umfassend und so hartnäckig wie in der Frage der patriarchalen Organisation dieser Kultur. Dabei handelt es sich um das Grundproblem dieser exponierten und folgenreichen weißen Zivilisation, die als erste vor dem Richter steht: um das Grundproblem dieser Geschichte mit ihren Weichenstellungen, das Grundproblem ihrer androzentrischen und ethnozentrischen Sicht auf die Welt, das Grundproblem der unterschiedlichen historischen Erblasten der Geschlechter, das Grundproblem des funktionierenden Männerbündnisses: das Grundproblem der historisch offensichtlichen und gegenwärtig subtileren Form einer geschlechtshierarchischen Gesellschaft, deren Auswirkungen ebenso weltweit wie persönlich sind, ebenso materialisiert wie verinnerlicht, ebenso verdrängt wie politisch effektiv. Die allermeisten Fragen, die uns heute bedrängen, sind unabhängig von der Tatsache überhaupt nicht anzugehen, daß ein Geschlecht sich zum Geschichtsmacher und Kolonialkrieger aufschwang und das andere Geschlecht vielleicht zu dessen Gunsten - ausschloß oder zur Unterstützung und Muse der Haupttat, der Unbescheidenheit, funktionalisierte. Nicht das größere oder kleinere Privatproblem der Geschlechter in den Industriegesellschaften ist der wesentliche Kristallisationsort des gesellschaftlichen Problems Patriarchat, vielmehr ist sein Verhältnis zu Frauen, Natur und armen Ländern die Ausformung eines Machtanspruchs, der sich in allen anderen Machtansprüchen von Klassen und Schichten immer wieder durchgesetzt hat. Damit radikalisiert sich auch die Ökologiefrage - statt neutralisiert zum Ergebnis der Industrialisierung - zum Symptom und Ergebnis des Patriarchats.

Dessen Inkompetenz, für die Belange von Menschen und anderen Lebewesen zu sorgen, statt sie auszunehmen, zu amputieren, zu vergiften, die überhebliche Dummheit dieser Macht, muß nicht einen weiteren Tag mehr unter Beweis gestellt werden. Die Perspektive, falls es noch eine gibt, liegt nicht darin, Männerwelt und Männernorm mit ein paar weiblichen Attributen und Individuen zu ergänzen. Brauchbar sind die Geschlechterspezifitäten, die diese Kultur uns aufgebürdet hat, beide nicht. Um das Schmarotzertum der westlichen Welt zu beenden, die Rückkehr zu einem niedrigeren Lebensstandard zu tragen und die sich verändernde Not zu begreifen, ist ein Nichtigkeitsbewußtsein über den Wert der patriarchalen Ordnung notwendig, das den Mut zur unumwundenen Kennzeichnung von Täterschaft und Mittäterschaft braucht und gleichzeitig so etwas wie Liebe zu dem, was dabei ist, zerstört zu werden, eine Liebe, die sich mit im Prozeß der Zerstörung befindet.

Anmerkungen

1 Erwin Chargaff: Alphabetische Anschläge; Stuttgart 1989, S. 40

2 Joschka Ficher: Jenseits von Mauer und Wiedervereinigung; in: taz vom 16.11.89, S. 12/13

3 Ulrich Horstmann: Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht; Frankfurt/M. 1985

4 Karl-Otto Apel/Dietrich Böhler/Gerd Kadelbach (Hrsg.): Praktische Philosophie/Ethik. Dialoge 1; Funkkolleg, Frankfurt/M. 1984

5 Ulrich Horstmann, a.a.O.

6 Odo Marquard: Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts; in: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 39-66