Idee zurückstellen-betr.: "Auf dem dünnen Eis der Eigenstaatlichkeit", taz vom 29.11.89

betr.: „Auf dem dünnen Eis der Eigenstaatlichkeit“,

taz vom 29.11.89

An einem Tag wie dem 28. November, an dem im BRD-Bundestag die „Wiedervereinigung“ beschlossen wurde, an dem Helmut Kohl wie einst Wilhelm II. „nur noch Deutsche“ kannte und die SPD-Abgeordneten völlig unkritisch und unüberlegt alte Standpunkte vergaßen und Volker Rühe & Co. in ihrem dumpfen Nationalismus bestärkten (Rühe in „Monitor“: „Die anderen Ländern haben hierbei kein Vetorecht. Wenn die Deutschen das wollen, dann ziehen wir das durch“ oder ähnlich), und dabei auch noch so taten, als würde die CDU alte SPD-Ideen übernehmen (Ehmke) - an einem solchen Tag war eine Erklärung der DDR-Opposition dringend nötig.

Doch stellt sich mir die Frage, ob die BildungsbürgerInnen, Intellektuellen und Kirchenleute nicht wieder einmal die Gefühle und Wünsche des „Volkes“ der DDR falsch einschätzten. Ich glaube, man ist sich in den Oppositionsgruppen nicht ganz im klaren, welchen unermeßlichen Vertrauensverlust und welchen Haß allein der Begriff „Sozialismus“ nach 40 Jahren Pervertierung dieser Idee erfahren hat. Das ist zwar sicherlich kein Grund, diese Idee für tot zu erklären. Aber man sollte sie im Moment zurückstellen. Ideologien und Weltanschauungen stehen für die meisten Menschen in der DDR nicht auf der Tagesordnung weder die Frage der Wiedervereinigung noch die des Sozialismus. Und wenn sie schon vor die Wahl gestellt werden, wählen die meisten wahrscheinlich die Lösung, die ihnen schnelller wirtschaftlichen Aufschwung und materielle Vorteile verspricht. Deshalb - und nicht aus nationalem Denken - werden sich die Rufe nach einem „einig Vaterland“ in Leipzig und anderswo verstärken. Das kalkuliert Kohl mit ein, logisch.

Bisher haben ein „gemäßigter Kapitalismus“ und ein als „Sozialismus“ getarnter Stalinismus konkurriert. Wer hierbei „gewonnen“ hat, zeigt sich Tag für Tag auf jeder Titelseite, in jeder Tagesschau. Doch leider scheint es, als wäre die Strategie der Adenauers und Enkel aufgegangen, und das westliche System hätte „nebenbei“ auch den wahren Sozialismus zur Chancenlosigkeit verurteilt.

Eines ist ganz sicher: Aufgrund der spezifischen Situation der DDR und der Vereinnahmungs- und Erpressungspolitik der BRD reicht „Glasnost“ natürlich nicht aus, die marode Wirtschaft muß total reformiert und der Lebensstandard annähernd auf westliches Niveau angehoben werden. Wie soll das gehen nur mit Hilfe, aber gleichzeitig ohne den Vorgang „BRD kauft DDR“? Sicher nicht, indem man auf völliger Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der DDR beharrt. Den Menschen fehlt die Geduld und wohl auch der Wille zu warten, ob der Sozialismus im zweiten Anlauf klappt.

So muß die DDR so rasch wie möglich ihr europäisches Interesse bekunden, wenn möglich bald der EG beitreten. Der Besuch von Mitterand bei Modrow wird richtungsweisend sein. Wenn die EG-Staaten, die gegen eine baldige Wiedervereinigung sind, zu Stabilisation der DDR beitragen, wird sich auch die BRD nicht verschließen können, und dann hat die Anti-Vereinigungs-Bewegung auch eventuell Chancen, eine Mehrheit bei den freien Wahlen zu bekommen. Und gegen die Mehrheit der DDR-BürgerInnen wird auch Kohl die Schoose nicht durchziehen können. Meiner Meinung nach sollte die DDR -Oppostion bei ihrem Wahlkampf dann mehr auf antifaschistische und antirevanchistische Überzeugungen viele DDR-BürgerInnen bauen (die die Gefahr einer Kettenreaktion nach der „Wiedervereinigung“ erkennen - „erst den kleinen Finger, dann die ganze Hand“, hin zu den 37er -Grenzen) als auf deren sozialistischen Idealismus. Dazu ist der zu sehr vor die Hunde gegangen, und dazu ist die wirtschaftliche Überlegenheit des Westens zu groß.

Lukas Wallraff, Nürnberg 20