Träume-betr.: "DDR: Keine Krise, aber 'Schlamassel'", taz vom 23.11.89

betr.: „DDR: Keine Krise, aber 'Schlamassel'“, taz vom 23.11.89

Wenn ich Politologie-Professor wär: Öffentlich würde ich darüber nachdenken, welche Konsequenzen die Reformbewegung in den realsozialistischen Ländern für den Westen hat. Nach dem ersten Schock, daß es - 50 Jahre, nachdem Nazideutschland den Zweiten Weltkrieg entfacht hat - so aussieht, als sei der Kapitalismus dabei, zum Sieger über den Sozialismus zu werden, würde ich mich fragen: Welche Chancen bietet die Entwicklung hinter dem löcherig gewordenen eisernen Vorhang der linken, alternativen Bewegung und den kapitalismuskritischen Kräften hierzulande? (An die Frauenbewegung denkt ein Politologie-Professor in der Regel nicht, daher lasse ich sie - wenn auch äußerst ungern - beiseite).

Nehmen wir den ungünstigsten Fall an: die DDR, Polen und die anderen realsozialistischen Länder werfen die guten Ratschläge linker Politökonomen des Westens in den Wind, erliegen dem Druck und der Glitzerfassade des westlichen Kapitalismus, die Sowjetunion bleibt dennoch brav in ihren Grenzen. Nehmen wir an: der kommunistische Machtblock zerbröselt, ohne daß DDR, Polen u.a. die Utopie einer neuen sozialistischen, demokratischen und offenen Gesellschaft verwirklichen. Was bliebe dann?

Meine Antwort könnte sein: Wenn der Kommunismus keine Weltgefahr mehr darstellt (als linker Politologie-Professor glaube ich natürlich nicht, daß er es je war, doch als Ideologie war der Antikommunismus sehr real und wirksam), sind nicht nur Natonachrüstung, Pershingraketen, Giftgaswaffen, das heißt die ganze westliche Rüstung überflüssig geworden, sondern das Militär selbst hat seinen Auftrag verloren. Wenn die Freiheit (mag sie real auch freie Marktwirtschaft heißen) nicht mehr bedroht ist, braucht sie auch nicht mehr verteidigt zu werden. Dem Militärbündnis Nato bis hin zur Bundeswehr wäre die Grundlage der Existenz entzogen. Was zögert die Linke, die Friedensbewegung, die Frauenbewegung, lautstark zu fordern: Weg damit!

Weiter würde ich darüber nachdenken, wie sich der Zerfall des kommunistischen Machtblocks auf die Vereinigten Staaten auswirkt. Die Massenbewegungen in der DDR, in Polen und anderswo reißen nicht nur den eisernen Vorhang ein, sie zerbröseln auch die pax americana, auf der der Weltmachtanspruch der USA beruht. Wenn die Vereinigten Staaten ihren äußeren Feind verlieren, sitzen sie auf einer irrsinnig gewordenen Hochrüstung. Zwar weiß ich (als linker Politologie-Professor), daß der Kapitalismus zu seiner Aufrechterhaltung den militärisch-industriellen Komplex braucht. Aber bis die USA einen neuen äußeren Feind gefunden und ideologisch aufgebaut haben, entsteht ein Leerraum, der den linken und alternativen Bewegungen, der Frauenbewegung, den kapitalismuskritischen Kräften einen Freiraum politischen Handelns verschafft.

Dieser Freiraum reicht vielleicht nicht aus, den Kapitalismus bis zum Jahr 2000 abzuschaffen. Doch weltweit nachdrücklich Abrüstung zu fordern, die Gefahr des dritten Weltkriegs, des Atomkriegs zu vermindern, neue Formen zu entwickeln, wie internationale Konflikte, Konflikte zwischen den Staaten, ohne Einsatz von Militär und Waffen ausgetragen und gelöst werden können, dazu reicht die Zeit vielleicht.

Wenn wir nicht handeln, haben die Vereinigten Staaten in zehn Jahren ihren neuen Feind. Möglicherweise ist es die ökonomische Macht Japans und anderer asiatischer Staaten, gegen die sich das westliche Militärbündnis zusammenfindet, um die Kultur der weißen, christlichen, abendländisch geprägten Welt gegen die vermeintliche Gefahr aus einem neuen Osten zu verteidigen. Aber bis dahin haben wir, Linke, Alternative, Frauen, eine Chance im Kampf gegen Faschismus, Rassismus und Kriegsgefahr; gegen die Ausbeutung der farbigen Völker durch die weiße Herrenrasse, gegen Sexismus und die Gewalt der Männer, die täglich weltweit das Leben von Mädchen und Frauen bedrohen, zerstören.

Halt: Jetzt träume ich ja als feministische Frau. Ich träume, daß linke Wissenschaftler und Männer endlich begreifen: Politik zu machen, heißt nicht nur, anderen nützliche Ratschläge zu geben, sondern muß heißen, nach Möglichkeiten und Freiräumen des eigenen politischen Handelns zu suchen.

Gisela Medzeg, Ludwigshafen