Belogen und betrogen

■ Das Ende der SED ist kaum mehr aufzuhalten

Vier Jahrzehnte lang belogen und betrogen worden zu sein, scheint zum neuen Lebensgefühl in der DDR zu werden. Die Enthüllungen über die Korruption an der Spitze von Partei und Staat haben die SED-Mitglieder, die die Partei noch nicht verlassen haben, in eine tiefe Identitätskrise gestürzt. Die explosive Mischung, die sich auf den Kreisdelegiertentagungen am Wochenende zusammenbraute, entzündete sich am Sonntag mit dem Bekanntwerden der Flucht Schalck-Golodkowskis, des Devisen- und Konsumgüterbeschaffers der Parteiaristokratie.

Der Doppelcharakter der SED - Herrschaftsapparat und Massenpartei zugleich - konnte nur solange aufrecht erhalten bleiben, wie die öffentliche Lüge die Kluft in der Partei verdeckte. Am Samstag - Krenz u.a. waren noch in Amt und Würden - schrieb das Zentralorgan der Partei zur Änderung der DDR-Verfassung: „Beseitigt ist der administrativ-absurde Anspruch, als Partei unabhängig von theoretischen und praktischen Leistungen immer und ewig an der Spitze zu stehen.“ Das Kernstück der bisherigen Ideologie, aus dem jedes Parteimitglied seine Identität und sein Engagement ableitete, wurde so als schlichtweg „absurd“ disqualifiziert. Damit war das Todesurteil über die SED in ihrer bisherigen Form bereits gesprochen. Die für dumm verkauften Parteimitglieder wandten ihre Wut gegen die eigene Führung.

Noch in keinem der „sozialistischen“ Reformländer ist mit der alten Führung mit solcher Radikalität abgerechnet worden - obwohl die Korruption in den ehemaligen „Bruderstaaten“ gewiß nicht geringer war. Diejenigen, die noch vor zwei Monaten an der Spitze der Macht gestanden haben, sind ins Bodenlose gefallen. Das ist wohl mit dem moralischen Bonus zu erklären, den sie als ehemalige antifaschistische Widerstandskämpfer hatten: Sie mochten als starrsinnig, autoritär und hinter der Zeit zurückgeblieben gelten, ein gewisser moralischer Kredit wurde ihnen dennoch eingeräumt. Den haben sie nun auch bei den Mitgliedern ihrer eigenen ehemaligen - Partei verspielt.

Zugleich zerfällt damit die Identitätsgrundlage der DDR. Sie könnte nurmehr in der Zukunft liegen, doch an die Zukunft der DDR glauben immer weniger Menschen. Die Reformer in der SED, die jetzt das Ruder übernommen haben, sind sich dessen gewiß bewußt. Ob es ihnen gelingt, aus den Trümmern der SED eine neue demokratisch-sozialistische Partei zu schaffen, die einen Beitrag zur Erhaltung der DDR leisten kann, wird der kommende Parteitag zeigen.

Walter Süß