„Die Gefahr einer Spaltung ist nicht vorüber“

Hannes Bahrmann, Vertreter auf der Parteidelegiertenkonferenz Berlin Mitte, zum anstehenden Sonderparteitag der SED  ■ INTERVIEW

taz: Sind die Frontlinien innerhalb der Partei klar? Verlaufen sie zwischen Basis und Parteiführung, die sich am Wochenende selbst aufgelöst hat, oder verläuft die Konfliktlinie möglicherweise auch durch die Basis?

Hannes Bahrmann: Bislang war ja die SED Einheitspartei in dem Sinne, daß man keine Flügel kannte. Und das oberste Prinzip, das auch in den heutigen Diskussionen durchscheint, ist immer noch die Forderung „Einheit durch Reinheit“. Aber so wie sich ja auch die Opposition derzeit nicht profilieren kann und zu klar erkennbaren einheitlichen Forderungen kommt, ist das auch bei der Partei so, daß sich gerade erst Plattformen herauszubilden beginnen, die natürlich auch noch diffus sind. Das billigste ist sicher immer, den Unterschied zwischen Basis und Führung herauszuarbeiten. Aber die Führung war ohnehin isoliert, was ja dann letztlich zur Selbstauflösung geführt hat. Sie ist der Entwicklung hinterhergehinkt und hat den Prozeß in keiner Weise mehr bestimmt. Das Gewicht der Basis ist an der erzwungenen Selbstauflösung besonders deutlich geworden.

Also gab es diese klare Konfliktlinie Basis - Führung, auch wenn sich noch nicht sagen läßt, ob sich innerhalb der SED -Mitgliedschaft unterschiedliche Strömungen formieren werden.

Die Parteiführung war ja von je her strukturell von der Basis getrennt. Alles fand hinter streng verschlossenen Türen statt. Und das mußte natürlich unter den Bedingungen des Fallens der Tabuzonen letztlich zur Selbstauflösung führen. Man muß sich aber klarmachen, daß eine solche radikale Umstrukturierung nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten verläuft. Wenn es keinen blutigen Umsturz gibt, dann braucht man immer Leute aus alten Gremien, die weiter nach vorn gehen, sich von der alten Politik abheben. Vom alten Apparat sind jetzt für den Parteitag nur noch ganz wenige dabei. Die Delegiertenwahlen widerspiegeln schon ungeschminkt den Willen der Basis. Der steht für Veränderung und sucht nach einer neuen Partei, wenngleich keine Einigkeit über ihre Neubestimmung herrscht.

Soll es eine neue Partei sein?

Neue Führung, neues Programm, neues Statut. Aber es gibt die große Angst vor einem Nachvollzug des ungarischen Vorbilds. Wenn wir zu weit gehen mit der Reformierung der Partei, könnte das zur Selbstauflösung führen.

Vor der Selbstauflösung gibt es ja aber vielleicht doch die Chance einer tragfähigen Erneuerung. Gibt es da Konzepte?

Man müßte jetzt eigentlich klare Konzepte anbieten. Aber das schmerzlichste ist, daß konzeptionell nur ein Rümpelhaufen übergeben wurde und daß die großen Braintrusts wie die Akademie für Gesellschaftswissenschaften nichts, aber auch gar nichts mehr an heute verwendbaren Konzepten anzubieten haben.

Werden auf dem Parteitag klare Fraktionen auftreten, wird sich möglicherweise noch einmal eine Fraktion der alten Linie formieren?

Ich halte es für normal, daß auch Vertreter alter Positionen auf dem Parteitag vertreten sein werden. Ich glaube, der Sonderparteitag wird auch festlegen, daß es künftig nicht mehr ohne den produktiven Streit und auch Richtungskämpfe abgehen wird, daß man künftig auch innerhalb der Partei den konzeptionellen Streit austragen wird. Ich glaube aber nicht, daß es zu einer Formierung der Kräfte des Apparates kommen wird. Die alten Kräfte sind derzeit gelähmt und sprachlos. Ich halte allerdings nichts von einem massenhaften Ausschluß von Leuten, die eine andere Meinung vertreten, Das ist derzeit eine sehr populäre Forderung. Wir würden unseren Neuanfang mit denselben Praktiken beginnen, mit denen wir früher konfrontiert waren.

Die Gefahr einer Spaltung, etwa entlang der sozialdemokratischen bzw. kommunistischen Traditionslinie sehen Sie nicht?

Das wäre denkbar. Die Gefahr einer Spaltung ist nicht vorüber. Die Spaltung kann sogar notwendig werden. Aber momentan sehe ich mehr den Weg einer Neugründung aus sich selbst heraus, gerade auch deshalb, weil wir eine viel stärkere sozialdemokratische Tradition in der Basis haben, als wir bislang zugeben wollten.

Interview: Matthias Geis