Nato contra Wiedervereinigung

Kohls 10-Punkte-Plan einer deutschlandpolitischen Perspektive stößt auf erhebliche Vorbehalte bei seinen westlichen Verbündeten / Verärgerung auch über den bundesdeutschen Alleingang / Die Einbindung in den europäischen Kontext soll gewährleistet bleiben  ■  Aus Brüssel Michael Bullard

Vier Bedingungen will die Nato nach Aussagen von US -Präsident George Bush erfüllt sehen, falls Bundeskanzler Kohl weiterhin eine „bundesstaatliche Lösung“ mit der DDR anstrebt. Die Bundesrepublik bleibt auf jeden Fall innerhalb der Nato, der Prozeß einer deutsch-deutschen Annäherung muß friedlich vonstatten gehen, die Lage in Europa muß insgesamt stabil bleiben und die Bundesrepublik davon ausgehen, daß der Zeitpunkt einer „Vereinigung“ nicht aktuell ist.

Mit diesem Ergebnis ging Bush nach dem Brüsseler Nato -Treffen vor die Presse, bei dem er die westliche Allianz über sein Treffen mit UdSSR-Staatschef Gorbatschow unterrichtet hatte. Bundeskanzler Kohl wußte schon nach seinem Abendessen mit Bush am Sonntag, daß sein Vorstoß wenig Begeisterung bei seinen Verbündeten gefunden hatte. „Die Nato-Partner haben sich bisher zurückhaltend gegenüber einer deutschen Wiedervereinigung geäußert“, mußte Kohl anschließend einräumen.

Kohl versicherte deshalb seinen Nato-Partnern, Veränderungen in den innerdeutschen Beziehungen müßten natürlich in eine europäische Gesamtpolitik eingebettet sein - zugleich bestand er jedoch darauf, daß es über den Weg der Selbstbestimmung auch den Deutschen möglich sein müsse, ihre Beziehungen zueinander zu vertiefen.

Frankreichs Staatspräsident Mitterrand, der bereits verärgert war, weil Kohl seinen 10-Punkte-Plan ohne vorherige Absprache in der EG präsentiert hatte, hob zwar auch die Selbstbestimmung als ein Prinzip für die Entwicklung Europas hervor. Als weitere, gleichrangige Prinzipien nannte er jedoch die Unverletzlichkeit und Dauerhaftigkeit der Grenzen, den demokratischen Charakter der Reformen in Osteuropa und die Stärkung des Zusammenhalts der EG.

Margaret Thatcher dagegen stieß sich vor allem an Bushs Bereitschaft, auf Gorbatschows Vorschlag eines Helsinki II einzugehen. Wie der britischen Zeitung 'The Guardian‘ zu entnehmen war, lehnt Frau Thatcher ein solches Ansinnen ab. Der Kreml-Chef möchte nächstes Jahr ein Europäisches Gipfeltreffen veranstalten, bei dem ein konventioneller Abrüstungsvertrag unterzeichnet werden soll. Diesem „Zweiten Helsinki-Abkommen“ hat Bush im Prinzip zugestimmt, ein Teil der europäischen Verbündeten befürchtet hingegen, daß ein solcher gesamteuropäischer Gipfel ein williges Forum für Gorbatschows Vision eines europäischen Hauses sein könnte inklusive der Auflösung der Militärbündnisse.

Die Sorge um die Zukunft des westlichen Bündnisses bestimmte auch die Diskussionen über die Konsequenzen, die sich aus dem geplanten US-Truppenabbau in Europa und der Annäherung der beiden deutschen Staaten für die Nato ergeben. Nicht nur sind die europäischen Nato-Partner von der plötzlichen Abrüstungswut der Amerikaner überrascht worden. Probleme bereitet vor allem Kohls Deutschlandpolitik. Denn: Die Wiederver Fortsetzung auf Seite 2

Kommentar auf Seite 8

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einigung Deutschlands steht im Widerspruch zum Verbleib der Bundesrepublik in der Nato - zumindest solange die Sowjetunion gegen einen Beitritt der DDR zum westlichen Bündnis ist. Und ohne Deutschland würde die Nato einen zentralen Existenzgrund - Kontrolle deutscher Expansionsgelüste - verlieren. Kohl trug in Brüssel den Ergebnissen von Malta Rechnung, indem er einräumte, „daß wir die Selbstbestimmung nicht ausüben können, ohne die europäischen Realitäten zu berücksichtigen“. Die Verankerung der Bundesrepublik in EG und Nato bleibe fundamental und entscheidend.

Gorbatschow unterrichtete am Montag die Mitglieder des Warschauer Vertrages in Moskau. Erstmals war mit Polens Regierungschef Mazowiecki auch ein Nichtkommunist dabei. Aus der DDR reisten außer Ministerpräsident Modrow noch Außenminister Fischer und Ex-Parteichef Krenz an. Gorbatschow hatte im Sowjet-TV bereits vor dem Treffen klargemacht, es gehe ihm vor allem darum, die Entwicklung nicht außer Kontrolle geraten zu lassen. Die UdSSR sei aber laut 'Tass‘ bereit, auch die Probleme beider deutscher Staaten im Geiste des neuen Denkens zu erörtern. Bundesaußenminister Genscher traf am Montag abend ebenfalls in Moskau ein, um mit Gorbatschow und Schewardnadse zu konferieren.

Vorab hatte Genscher in Bonn noch

einmal die Kritik seines Parteichefs Lambsdorff an Kohls 10 -Punkte-Programm unterstützt. Die Festlegung der Unverletzbarkeit der polnischen Westgrenze dürfe nicht ignoriert werden. Gerade in dieser Frage müsse man „völlig klar“ sein.

Lambsdorff seinerseits will allerdings seine Kritik an Kohl inzwischen als „Verfahrenskritik“ verstanden wissen - weil seine Partei nicht zuvor informiert worden war.