Der Dalai Lama hält an Verhandlungslösung fest

Der „Mittelweg“ des geistlichen Oberhaupts der Tibeter findet längst nicht bei allen Tibetern Zustimmung / Seit Beginn der Okkupation werden tibetische Kultur und Umwelt schrittweise zerstört / Auch der auf Mäßigung bedachte Dalai Lama spricht von „Apartheid“  ■  Von Ulrich Stewen

Bonn (taz) - Unwillen und ungewöhnlichen Widerspruch hat der Dalai Lama, das weltliche und religiöse Oberhaupt der Tibeter, schon in den vergangenen Jahren aus Teilen seiner Exilgemeinde erfahren müssen. Der Dalai Lama signalisiert nämlich den Verzicht auf die Unabhängigkeit seines Landes, um damit den Weg für Verhandlungen mit Peking zu ebnen. Nach einem fünf Punkte umfassenden Friedensplan, den er zunächst Ende '87 in Washington vorstellte und später 1988 vor dem Europaparlament präzisierte, sollen die inneren Angelegenheiten Tibets - Kultur und Religion, Bildung und Wissenschaften, Sport und Tourismus sowie Binnen- und Außenhandel - künftig in der Hand der selbstregierten Einheit Gesamt-Tibets liegen, während Außenpolitik und Verteidigung Chinas Domäne blieben. Autonomie im chinesischen Staatsverband ist das Ziel.

Doch seit den Aufständen im März ist die politische Position des religiösen Führers bei vielen Tibetern nicht mehr unumstritten. Schon denkt der Dalai Lama darüber nach, sich vollends ins religiöse Leben zurückzuziehen, sollte sein Appell an einen bedingungslosen Gewaltverzicht fruchtlos bleiben. Denn die Gegenposition gewinnt an Boden. „Mit Verhandlungen erreichen wir nichts. Unabhängigkeit und Freiheit sind in der Geschichte immer nur im Kampf durchgesetzt worden - und das mit allen Mitteln. Verhandlungen sind ein Teil, aber Positionen aufzugeben, das ist für das tibetische Volk unannehmbar.“ Der Generalsekretär der tibetischen Jugendorganisation im Exil, Tashi Namgyal, rechnet sich nicht zu den radikalen Kräften. Doch ein Blick auf den tibetischen Widerstand der zurückliegenden Jahrzehnte zeige, daß die Weltöffentlichkeit von den friedlichen Protesten im Himalaya-Staat kaum Kenntnis genommen habe.

Die Starrheit der chinesischen Führung tut ein übriges, die Radikalisierung der Tibeter zu fördern. Eine Volksbefragung in Tibet unter internationaler Aufsicht, in der die Bewohner über den Status ihres Territoriums befinden sollen, weist Peking in gleicher Weise zurück wie den jüngsten Vorstoß des Dalai Lama, eine unabhängige Untersuchungskommission zu Ermittlungen nach Lhasa einreisen zu lassen.

Zerstörung der Kultur

Kultur und Gesellschaft Tibets sind in wenigen Jahrzehnten brachial zerstört worden. Tausende von Klöstern, Tempeln und Kultstätten sind niedergerissen, Schriften und Bücher vernichtet oder verkauft worden. Lehre und Ausübung des Buddhismus waren bis zu Beginn der achtziger Jahre verboten. 1,2 Millionen Tibeter - rund ein Fünftel der Bevölkerung bezahlten die chinesische Okkupation mit dem Tod in Gefängnissen und Arbeitslagern, durch Hunger und materielle Verelendung. 7,5 Millionen chinesische Siedler haben die Tibeter zu einer Minderheit im eigenen Land gemacht. Bei der medizinischen Versorgung, bei Schul- und Berufsausbildung, im Geschäftsleben und in der Verwaltung tritt die Diskriminierung offen zutage. Gut ausgestattete Krankenhäuser bleiben Chinesen vorbehalten, in den weiterführenden Schulen sind kaum Tibeter anzutreffen. Auch der Dalai Lama sprach bei der Vorlage seines Fünf-Punkte -Plans von „Apartheid“ auf dem Dach der Welt. Die Internationale Juristenkommission bescheinigte China Absicht zum Völkermord.

Zur Vernichtung von Kultur kommt die Vernichtung der Umwelt. Angesichts des Kahlschlags tibetischer Waldgebiete nahm der Dalai Lama Wiederaufforstung und Schutz der Umwelt in seine Verhandlungsofferte auf: „Vor der Invasion durch China war Tibet ein Gebiet unberührter Natur in einer einzigartigen Umgebung. In den zurückliegenden Jahrzehnten wurden Fauna und Wälder von den Chinesen nahezu vollständig vernichtet.“

Der einstige Pufferstaat zwischen Indien und China ist inzwischen zu einer raketenbestückten Festung geworden. Schätzungsweise fünfzehn Divisionen der „Volksbefreiungsarmee“ sind allein hier stationiert, das entspricht einer Präsenz von rund 180.000 Soldaten. Nach einem Bericht der in Hongkong erscheinenden 'South China Morning Post‘ sollen im März - unmittelbar nach Verhängung des Ausnahmezustands - 170.000 Soldaten in unmittelbare Nähe der Hauptstadt Lhasa verlegt worden sein.

Bereits während der militanten Protestdemonstrationen im September und Oktober 1987 waren Kontingente von Luftlandeeinheiten nach Tibet geflogen. Die chinesische Nachrichtenagentur 'Xinhua‘ sprach damals von der größten derartigen Militäraktion in der Geschichte des Landes. Daß sich die Militärs in Tibet nicht nur eines äußeren Feindes erwehren sollen, belegt die chinesische Pressemeldung, wonach im Juli 1988 erstmals umfangreiche Übungen von Luftlandeeinheiten auf dem tibetischen Hochplateau durchgeführt wurden. Diese schnellen Eingreiftruppen sollen „zur begrenzten Kriegsführung und bei Eventualitäten“ eingesetzt werden. Als die chinesische Armee unlängst mit dem US-Flugzeughersteller Boeing über den Kauf von Großhubschraubern verhandelte, wurde die Firma aufgefordert, eine Testmaschine für mehrere Wochen nach Tibet zu schicken.

Das Wirtschaftspotential Chinas und die enorme Aufnahmebereitschaft des Marktes läßt das Ausland, vor allem die führenden Industriestaaten, vor einer Stellungnahme zur Lage in Tibet genauso verstummen wie später nach der Militäraktion und den Morden auf dem Platz des „Himmlischen Friedens“. Importe in Höhe von 43,2 Milliarden Dollar (1987), vornehmlich aus Japan, den USA und der Bundesrepublik Deutschland, spielen bei dieser Haltung mit. Lediglich die Parlamente setzen zuweilen Zeichen und rufen Peking zu Verhandlungsbereitschaft mit der Exilregierung auf. Die Alibifunktion derartiger Bekundungen wird deutlich, wenn die Regierungen danach zur Tagesordnung übergehen.

Die Massendemonstrationen in Lhasa und die Unbeugsamkeit vor allem der jüngeren Tibeter haben bis Juni 1989 durchaus eine Wirkung auf Peking ausgeübt. Verhandlungen erschienen greifbar nahe. Seitdem hat sich die Haltung der chinesischen Führung jedoch verhärtet. Trotzdem hält der Dalai Lama sein Verhandlungsangebot aufrecht. Angesichts des militärischen Aufmarsches der Chinesen gibt es für die Tibeter auch keine realistische Alternative zu seiner Politik.