Zwangsumtausch und Visazwang gekippt

■ Ab 1. Januar 1990 freie Reisen in den Osten / Kohl trifft Modrow am 19.12. in Dresden / Honecker unter Hausarrest / Demonstranten wollten in Leipzig und Erfurt Akten sicherstellen / Regierung und SED-Arbeitsausschuß mahnen zu Besonnenheit / Nächste Woche Amnestie?

Berlin (taz) - Vom 1.1. 1990 sind Reisen in die DDR und Ost -Berlin ohne Visum und Mindestumtausch möglich - Ergebnis der Verhandlungen zwischen Kanzlerlamtsminister Seiters und Ministerpräsident Modrow. Statt des Begrüßungsgeldes für DDR -Bürger wird es einen gemeinsamen Devisenfonds geben, in den von beiden Seiten insgesamt 2,9 Milliarden DM eingezahlt werden. Bundeskanzler Kohl wird Ministerpräsident Modrow am 19. Dezember in Dresden treffen.

Währenddessen ist die DDR-Revolution in ihre 2. Phase getreten: nach der Euphorie der Befreiung die Suche nach den Schuldigen. „Das Volk“ will Taten sehen. Gegen Erich Honecker und andere Ex-Politbüromitglieder wurde Hausarrest verhängt. Es handele sich um eine Art „Staatsnotwehr“, legitimiert durch den Volkswillen, rechtfertigte Vize -Generalstaatsanwalt Harri Harrland gestern diese Maßnahme, die nicht durch die Strafprozeßordnung der DDR gedeckt ist.

Die Bevölkerung hat begonnen, die Aufdeckung von Korruption und Amtsmißbrauch in die eigenen Hände zu nehmen. In Erfurt und Rostock waren am Montag abend die ehemaligen Stasizentralen von Demonstranten gestürmt worden, um den Abtransport von Akten zu verhindern. Betriebe wurden aufgerufen, bei der Sicherung von Beweismaterial mitzuhelfen und Fluchtversuche zu verhindern. Die Staatsjustiz wird zum volkseigenen Betrieb.

Den Massen sitzt der Fall Schalck im Nacken. Manche vermuten den Untergetauchten in West-Berlin, 'dpa‘ meldete ihn in Tel Aviv. Meldungen im DDR-Rundfunk, wonach in Stasigebäuden „massenhaft Material verheizt“ würde, schüren die Ungeduld in der Bevölkerung. Generalstaatsanwalt Günter Wendland erklärte seinen Rücktritt.

Der Arbeitsausschuß der SED warnte in seiner ersten Erklärung vor „Anarchie und Chaos im Land“. Die Regierung Modrow versprach, mit einem neuen Untersuchungsausschuß, an dem auch Oppositionsgruppen teilnehmen, „jeglichen Amtsmißbrauch schonungslos aufzudecken“. Um willkürliche Selbstjustiz zu verhindern und die Wut im Lande zu kanalisieren, haben Prominente zur Bildung von Bürgerkomitees aufgerufen, die den Ermittlungsorganen zur Seite stehen sollen. Der Regisseur Konrad Weiß warnte vor dem Einfluß von Rechtsextremen, die zu Racheaktionen anstacheln könnten.

Ermittlungsverfahren laufen gegen die früheren Politbüromitglieder Mittag und Tisch, den Gewerkschafter Gerhard Nennstiel, den ehemaligen Bauminister Mattler, den früheren Leiter der ZK-Finanzverwaltung Wildenhain sowie die Ex-Bezirkschefs Albrecht und Müller. Gestern sollten fünf weitere Verfahren eingeleitet werden.

Innen- und Justizminister überreichten gestern dem Noch -Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz einen Vorschlag für „eine kurzfristige Durchführung einer weitgehenden Amnestie“. Bis Ende der Woche soll über den Vorschlag entschieden werden.

Alexander Smoltczyk Siehe Kommentare auf Seite 8

Interviews auf Seiten 3 und 8