Junge Philosophen in der DDR - heimatlos

Intellektuelle zwischen historischem Anspruch und sozialer Bedeutungslosigkeit / Alter Stalinismus und neue Intellektuellen-Feindschaft  ■  Von Klaus Hartung

Ost-Berlin (taz) - „Die Herbststürme rütteln an den Chefetagen. Gehen sie an der Philosophie vorüber?“ Diese bange Frage formuliert Matthias Bend (Jena), einer der Veranstalter des ersten „Forums junger Philosophen“, am Samstag in Ost-Berlin. 350 „junge Philosophen“ aus der ganzen DDR, Altersgrenze 40, waren im „Haus der jungen Talente“ versammelt; sämtlich Dissidenten des offiziellen Philosophenkongresses, eine Protestgeneration gegen die „Theorie-Bürokraten“. Das Selbstverständnis war von vorneherein mit übermäßigen Ansprüchen belastet: „Kassensturz in der Philosophie“, Ausbruch „aus der bedrückenden Sprachlosigkeit“, Schluß mit den ML -Vulgarisierungstendenzen; Einbeziehung der modernen Philosophie des Westens (wobei Habermas und Luhmann fast siamesisch als gemeinsame Impulsgeber zitiert wurden) und, immer wieder, der Ruf nach einer „neuen geistigen Kultur“ in der DDR.

Wo ist „unser Beitrag“ zur Revolution in der DDR, „unsere Konzeption eines demokratischen Sozialismus“, wurde gefragt. Hohe Ansprüche und das Gefühl, am Nullpunkt zu stehen: „Wir wissen eigentlich gar nicht, was Sozialismus ist.“

Die inhaltliche Debatte sollte sofort beginnen. Presse war ausgeschlossen, um Befangenheit oder Fensterreden zu vermeiden. Slavik Hedeler von der Humboldt-Universität formulierte die provozierende These, daß der Stalinismus schon vor Stalin begann. „Haben sich nicht schon zu Lebzeiten Lenins Strukturen herausgebildet, unter denen wir heute noch leiden?“ Hedeler war enttäuscht, daß das Desiderat der Stalinismusaufarbeitung keine richtige Debatte provozierte. Gerade die Analyse dieser Geschichte sei doch der Anspruch, dem sich die Philosophen heute stellen müßten.

Aber die Diskussion schwankte zwischen Inhalts- und Organisationsdebatte. Der Zeitdruck des Umbruchs drückte in viele Richtungen, auch ins Allergrundsätzlichste. Einer wollte gar den Stalinismus als extreme Form des Patriarchats aufarbeiten. In dieser Unruhe unter der verrinnenden Zeit und der hastigen Suche nach dem richtigen Neuanfang mußte das Hauptreferat des Berliner Philosophieprofessors H.P. Krüger überfordern. Er unternahm eine grundsätzliche Abrechnung mit ML-Ökonomismus, der zu „einem zynischen und machttechnischen Bild vom Menschen“ führe. Zugleich versuchte er aus der These, daß die „welthistorische Chance für eine sozialistische Entwicklung nur dann noch existiert, wenn sie die moderne bürgerliche Gesellschaft positiv negiert“, ein philosophisches Programm zu entwickeln. Jahre von Lesearbeit, Jahre von Aufarbeitung muteten sich die „Jungen Philosophen“ zu, aber niemand konnte sich vom Gefühl der weglaufenden Zeit befreien: Auf der einen Seite sind die noch nicht besiegten „Theoriebürokraten“ des Stalinismus, auf der anderen Seite gebe es schon eine neue „Intellektuellen-Feindschaft“ unter den revolutionären Massen. Wo ist noch Zeit für Utopie und Stalinismuskritik, wenn in Leipzig die Wiedervereinigung gefordert wird? Zabel aus Halle: „Der Sozialismus steht hierzulande sehr wohl zur Disposition. Die Stalinismusdebatte müssen wir für eine Zeit aufheben, in der die Philosophie wieder Zeit hat.“

Der wirklich wunde Punkt wurde nur genannt, nicht diskutiert: Zander aus Magdeburg fragte, warum „ein so kleines Völkchen wie die DDR so viele Philosophen braucht“. Philosophiestudium war bislang unmittelbar ein Karriere -Studium in der DDR, weil keinerlei Ausbildungs- oder Erziehungseinrichtung ohne ML-Grundlagenstudium denkbar war. Philosophie als „Überwissenschaft ist auch eine Vulgarisierung“, konstatierte eine Frau aus Karl-Marx -Stadt.

Am Ende zeigte das „Forum der jungen Philosophen“ vor allem, wie sehr der Zusammenbruch der Innenausstattung der Macht und der staatlichen Struktur hinter den Rücken der Individuen abläuft - auch und gerade derjenigen Individuen, die von Berufs wegen solche Tendenzen reflektieren müssen.