KOTZEN UND GENIESSEN

■ „Die Rolle“ vom sechsten Hamburger Kurzfilmfestival im Sputnik

Die Rolle“ zeigt eine Auswahl von Spiel-, Trick- und Experimentalfilmen, die beim diesjährigen No-Budget -Kurzfilmfestival in Hamburg gezeigt wurden, Filme, die mit einem Produktionsetat von weniger als 10.000 Mark auskommen mußten. Zu sehen sind: Zuschauerlieblinge, die den Publikumspreis erhielten; die Jurypreisträger; Teilnehmer des Ultrakurzfilmwettbewerbs „Der flotte 3er“ (Filme unter drei Minuten); ein Streifen aus dem „Steppin-out„-Programm, in dem sich regelmäßig diejenigen No-Budget-Filmemacher wiederfinden, die eine institutionelle Förderung oder andere Finanzierung erhalten haben, und - nicht zuletzt - das Antlitz einer dänischen Zigarettenschachtel, deren Firma das ganze Unternehmen gesponsert hat.

Scheinbar querbeet und einmal kräftig durcheinandergeschüttelt finden sich die 10 vollkommen unrealistischen Episoden des Lebens, so der Untertitel des Sammelstreifens, auf der Rolle wieder. Aber um nicht einen Film nach dem anderen spurlos an den Zuschauern vorbei abzuspulen, haben die Rollenmacher ein Meisterwerk der Reihung geschaffen. Der dämlichste Beitrag mit dem sinnigen Titel Die schlimmste Zeit wurde geschickt versteckt. Die bundesdeutsche Drei-Männer-Produktion von 1988 zeigt die pubertäre Selbstmordfahrt eines Mannes in der Prä-Midlife -Crisis, der anscheinend in seiner Jugend zu viel Quadrophenia gesehen hat, aber noch nicht einmal seinen Abgang halb so dramatisch hinkriegt wie der kleine Mod auf seiner Vespa. In der zweiten Hälfte des Films soll ironisch die dilettantische Egobespiegelung des Filmemachers, dann der Kritiker des Schmalfilmemachens selber kritisiert werden. Letzterer landet im Swimmingpool, und alles Metafilmische löst sich in derbem Gelächter auf.

Aber zu diesem Zeitpunkt hat die Aufmerksamkeit ohnehin schon eine Erholungspause verdient. Die beiden Jurypreisträger, die gleich zu Beginn gezeigt wurden, beschäftigen das Gehirn genug. Swing erzählt aus ungewöhnlichen Kameraperspektiven die Geschichte eines dicken Menschenkindes, das mitten in der Wüste vergebens versucht, auf einer Schaukel zu schaukeln. Weite des Horizontes, Wolken und das Schaukelgerüst, das an eine Guillotine erinnert, geben dem wortlosen Bemühen eine Symbolkraft, die einen noch ganz atemlos in den nächsten Film gleiten läßt. Interview, mit dem zweiten Jurypreis ausgezeichnet, läßt eine fiktive Sängerin zwischen Ulla Meinecke und Ina Deter zu Wort kommen. Ein Animationsfilm, der mit Hilfe von Ton- und Bildmontage das Verhältnis von Medienwirklichkeit, subjektiver Realität und Unterdrückung thematisiert; der einzige politische Film dieser Rolle, zudem der einzige, an dem eine Frau an der Regie zumindest beteiligt war. Zur Entspannung gibt es danach eine Viertelstunde lang einen modernen Piratenfilm aus der Reihe Verbrechen, die nicht stattgefunden haben: Die Hafenpiraten Teil 1 strotzt nur so vor Samstagabend -Offkino-Humor.

Aus der Gemütlichkeit scheucht dann allerdings die australische Bring-Philip-Produktion Falling From aus dem „Steppin-Out„Programm: Traumwandlerisch taumelt ein wunderschöner junger Mann auf der Suche nach dem Glück durch Hotels, Straßen und Hinterzimmer. Eingetaucht in atmosphärische Klänge und Farben erlebt der Mann, wie sich der Traum zu einem Alptraum verdichtet. Bizarre Details und Effekte machen die Illusion vom großen Kino perfekt.

Nach der Schlimmsten Zeit reizt dann nur noch harter Stoff. Abgebrühte, die Peter Greenaways Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber unbeschadet überlebt haben, können hier das Ekeln lernen. In drei Filmen wird gefressen, gesoffen, gerülpst und gespuckt, daß Freud seine Freude daran gehabt hätte. Oder wie ist es zu interpretieren, wenn das Trickfilmmännchen Bier in sich hineinkippt, bis er es der heißersehnten Freundin übers Kleid kotzt? Diese üble Bölkstoffnummer ist allerdings harmlos gegen die echte Tomate, die ein echtes Huhn vögelt, das wiederum einem echten roten Tintenfisch mit einem schnappenden Fischmaul Platz machen muß. Der schließlich frißt dem, der hoffnungsvoll vor dem Teller saß, die Hand ab, bis nur noch ranzige Knochen übrigbleiben. Bei Ewald schließlich muß einer nach dem Genuß einer Schüssel matschigen Breis explodieren. Mahlzeit.

Freundlich von den Rollenmachern, daß sie den Trickfilm Balance zwischen diese Köstlichkeiten nahmen. Balance zeigt eine schwebende Plattform, auf der sich fünf Figuren bewegen. Die Plattform kann nur im Gleichgewicht gehalten werden, indem die Puppen ihr Gewicht sinnvoll auf ihr verteilen. Dieser moralische und ästhetisch perfekte Film ganz nach dem Geschmack von No-Budget-Philosophen des letzten Jahrzehnts verhindert im richtigen Moment den Run auf die Toilette. Das Kino kann nach ungefähr 80 Minuten zwar grün im Gesicht, aber halbwegs mit Fassung verlassen werden.

Claudia Wahjudi

„Die Rolle“ ab heute im Sputnik Südstern