Blaß und hilflos-betr.: "Deutschland besoffen", taz vom 30.11.89

betr.: „Deutschland-besoffen“, taz vom 30.11.89

Abgesehen davon, daß ich - im Gegensatz zu Elie Wiesel und offenbar auch M.Kriener - Berlin trotz der gefallenen Mauer gar nicht als das wirkliche „Zentrum der neuen Deutschland -Besoffenheit“ sehe, muß ich dem Kommentar leider voll zustimmen.

Die arrogante Selbstgefälligkeit, mit der die Bundesregierung, die Konzerne und viele BundesbürgerInnen meinen, die DDR nach 40 Jahren jetzt einfach plattmachen und einkassieren zu können, trifft zur Zeit kaum auf öffentlich wirksame Gegenpositionen. Über die ersten verbalen Attacken Mompers gegen Kohls „Gequatsche von der Wiedervereinigung“ hatten wir uns wohl zu früh gefreut: Die SPD scheint mal wieder ihr Mäntelchen nach dem Winde zu hängen und erklärt Kohls Konzept einfach zu ihrem eigenen.

Warum wirken die Grünen und die Linken hierzulande bei ihren Stellungnahmen gegen die „große Wiedervereinigungskoalition“ nur so blaß und hilflos? Ich meine, daß das nicht nur an unserer objektiven Schwäche als Minderheit gegen einen deutschlandbesoffenen Mainstream“ liegt, sondern daß wir unser Eintreten für die Zweistaatlichkeit nicht schlüssig genug begründen. Es ist eben wenig überzeugend und mobilisierend, wenn man sich immer nur auf die historisch begründete Angst unserer europäischen Nachbarvölker vor dem großdeutschen Militarismus und auf die möglichen innenpolitischen Schwierigkeiten Gorbatschows bezieht, so richtig diese Aspekte auch sein mögen.

Wir sollten statt dessen offensiver die neue Siegerpose der VertreterInnen der ach-so-erfolgreichen westlichen Marktwirtschaft angreifen, deren ökologischer und sozialer Katastrophengehalt - verbunden mit dem Export von Elend in die Dritte Welt - plötzlich vergessen zu sein scheint. Plötzlich erscheint auch die westliche Demokratie als Hort der reinen Freiheit; hinter den Nachrichten von den Wandlitzer Enthüllungen und hinter der lange überfälligen Abrechnung mit dem Stalinismus in der DDR verschwindet die Erinnerung an hiesige Repression, Korruptionsaffären, Parteispenden, Verfassungsschutzskandale, politische Justiz etc. Mit welchem Recht wird im Westen pauschal alles, was in der DDR-Gesellschaft anders als in der BRD aufgebaut wurde, für schrottreif erklärt? Mit welchem Recht erklärt man hier implizit nicht nur die alte SED-Führungsmafia, sondern die ganze DDR-Bevölkerung für blöde?

Der goldene Westen als Vorbild? Natürlich sind volle Regale in den Läden besser als leere. Aber vielleicht gibt es für die DDR und die anderen Ostblockländer doch noch bessere und eigenständige Wege zu einer effizienteren Wirtschaft und einer demokratischeren Gesellschaft als den Weg heim ins Reich Kohls. (...) Linke Solidarität sollte auf Besserwisserei gegenüber den Reformkräften in der DDR verzichten und statt dessen dazu beitragen, den WiedervereinigungsbeschwörerInnen den Wind aus den Segeln zu nehmen und dadurch den Leuten in der DDR den Rücken freizuhalten für eigene Debatten und unabhängige Wege.

Doris Möhlenrich), Berlin