Eine kleine Nachrede

Leicht gekürzte Überlegungen von Pavel Kohout - heute „ein Österreicher tschechischer Herkunft“ - zum Symposium „Sozialdemokratie und Osteuropa“  ■ D O K U M E N T A T I O N

Liebe Freunde,

trotz meiner Biographie hat in den elf Jahren meines erzwungenen Exils kein Sozialist eines deutschsprachigen Landes je „Genosse“ zu mir gesagt.

Das Ausbleiben dieser Anrede wie auch das völlige, vielfach gezeigte Desinteresse an meiner außerparteilichen Zusammenarbeit im Bereich der von Sozialisten verwalteten Kultur war die Folge der zwar verständlichen, aber ganz falschen Angst vieler Sozialisten Europas, die sogenannten Dissidenten - ein Wort, das noch unlängst nach Verrat roch seien es, die den Traum vom Sozialismus noch schlimmer bedrohen als seine eigentlichen Zerstörer.

Je mehr das Jahr 1968, unser Versuch des Sozialismus mit menschlichem Antlitz, in Vergessenheit geriet, desto mehr war man unter den eigentlich logischen Verbündeten im Westen, den sozialdemokraten, von den Kommunisten ganz zu schweigen, der Meinung, ein realer Sozialismus sei jedenfalls besser als keiner.

Das war ein schwerer Irrtum, der wieder einmal beweist, daß eines nicht übetragbar ist: die Erfahrung. Der letzte Mensch in der CSSR wußte besser als der bekannteste Politologe des Westens, daß es dort um keinen Deut von Sozialismus ging, sondern um wahren Antisozialismus, und nur seine Einführung war die echte Konterrevolution. Realsozialismus wurde zur Etikette eines Regimes der absoluten Nichtskönner, die - das war unser Glück - nicht einmal wirkliche Gangster zu sein wußten; statt Menschen ließen sie deren Hunde umbringen.

Seit Ende August ist die westliche Welt staunender Zuschauer einer Rehabilitierung, die sie kaum erwartete, die jedoch die Beharrlichen sehr wohl erwartet haben, sonst wären die nämlich Selbstmörder gewesen. Sie wußten ganz genau, daß jene Führer, die heute wie Pappkameraden umfallen, nur von den Kanonenläufen sowjetischer Panzer gehalten werden. Und sie wußten seit zwei Jahren, daß das Ende naht, dank Gorbatschow, der sich der Ideen des Prager Frühlings bediente.

Die Art und Weise, wie es kam, das Tempo und die Noblesse, hatten auch uns Wissenden den Atem verschlagen. Das neue Phänomen wurde mir verständlicher, als ich vorgestern von jungen Tschechen und Slowaken gerufen wurde, die die CSSR -Botschaft in Wien friedlich besetzt hatten, weil man ihnen noch jetzt mit der gewohnten Arroganz das Visum in die Urheimat verweigerte. Ich war dabei, als vierzig Mittzwanziger bis Mittdreißiger ruhig, mit Humor und doch mit der Sicherheit erfahrener Streikführer, binnen acht Stunden auch die verkalkte Botschaft zur Erfüllung all ihrer Forderungen zwangen.

Anfangs dachten die Botschaftsangehörigen noch, ich sei der Anstifter. Als Prag mit den Besetzern telefonieren wollte, lehnte man mich ausdrücklich ab. Es amüsierte mich köstlich, weil ich bereits wußte, daß der inzwischen auf normalem Weg in seine Aufgabe des Sprechers hineingewachsene junge Slowake Ivan es besser meistern wird als ich: Er hatte keine alten Rechnungen zu begleichen, ihm waren die Beamten absolut egal, er ließ es nur nicht zu, daß sie seine Kreise störten. (...)

Um so größer der Schaden, daß diese hervorragende Generation, die ihr Demokratieverständnis in den Genen zu haben scheint, einen Begriff derzeit schlecht erträgt: das Wort Sozialismus. Er wurde ihnen ihr Leben lang als ein System präsentiert, das alles verkörpert, was sie haßten. Wenn man dazu noch die fast absolute Unkenntnis der anderen

-dieser Welt - zählt, darf man sich nicht wundern, daß der Traum des Großteils dieser Generation einstweilen „Kapitalismus“ heißt, was immer sie sich darunter vorstellen, solange sie nicht eines Besseren belehrt werden.

Da diese Generation darüber hinaus von den Vertretern des Staates auf allen Ebenen bis zu den Lehrern immer nur Worte, Worte, Worte gehört hat - verlogen oder im besten Fall inhaltslos - wird sie derzeit nicht einmal jenen Reformkommunisten oder Sozialdemokraten Glauben schenken, die sie ehrlich werden aufklären wollen. Der einstweilige Rechtsruck ist vorprogrammiert.

Dieser Stand ist um so trauriger, als sie jetzt seit Montag, bei der offenen Grenze, auf Altersgenossen dieser Gesellschaft stoßen werden, von denen sie kaum eine sozialistische Inspiration erhoffen können. Bei meinem einzigen Gespräch mit dem Vorsitzenden der SPÖ habe ich auf zwei Tatsachen aufmerksam gemacht: daß auch das Gros der hiesigen Jugend Sozialismus längst nicht mehr mit edlen Idealen, sondern damit verbindet, was in diesem - jetzt auch meinem - Österreich für Schlagzeilen sorgt: die Pleite der verstaatlichten Betriebe, deren Sanierung durch große Opfer der Werktätigen beglichen wird; sture Parteidisziplin, die bis zum Verrat an den Wählern führt. Plumpe Parteiwirtschaft, die sich von der „drüben“ nur insofern unterscheidet, als man hier zwischen drei Parteibüchern wählen kann. Beamtendiktatur, die sich nicht einmal durch einen Machtwechsel ändern läßt, und auch hier Korruption, wie sie früher eben die kennzeichnete, gegen die gerade Sozialisten als Bewegung angetreten waren. (...)

Der Parteivorsitzende ließ mich mit der Höflichkeit, die ihm vielleicht unserem Altersunterschied wie auch meinem Status als Gastösterreicher angemessen schien, spüren, daß die Sache bei weitem nicht so dramatisch ist.

Nun: meiner Meinung nach ist sie mehr als bedenklich! Das sozialistische Gedankengut wird hier ebensowenig gepflegt wie drüben und verkümmert zusehends.

Ich verfolge täglich stundenlang den Ausbruch der Offenheit in meiner Urheimat auf den Bildschirmen. Und nicht einmal jetzt, da bereits alle sprechen dürfen, hörte ich bis dato auch nur ein einziges Mal eine verständliche, ausreichende und überzeugende Antwort auf die elementare Frage: Was ist das eigentlich heute, der Sozialismus, auf den immer noch so viele in der Welt schwören?

Eine solche Antwort vernahm ich auch im Westen nicht. Solange gerade jene Parteien, die den Sozialismus auf ihren Fahnen tragen, nur tagespolitische Themen behandeln, solange sie nicht statt in elitären Werkstätten die Frage immer wieder durch ihre führenden Vertreter in der Öffentlichkeit stellen, solange sie nicht versuchen, die Antworten gemeinsam im aufregenden Konflikt mit ihren Dissidenten zu suchen, statt diese auf östliche Art auszuschließen, bleibt der Begriff nicht mehr als ein hohles Symbol. Sozialismus nach 100 Jahren in der Werkstatt ist noch absurder als die gegenwärtige Verwandlung des Burgtheaters in eine Experimentalbühne!

Ich werde ständig gefragt, ob ich immer noch Sozialist bin. Wahrheitsgemäß antworte ich: Ich weiß nicht. Woher soll ich es wissen? Nur weil ich gegen die Armut bin? Gegen Ausbeutung? Gegen soziale Ungerechtigkeit? Gegen Anhäufung von Kapital, die die Demokratie bedroht? Dagegen sind heute doch fast alle - die meisten Christen wie die Bürgerlichen. Also, entweder: denen, die sich als Sozialisten bezeichnen wollen, gelingt es bald, sich neu zu definieren, oder: sie sollten eingestehen, daß das Wort inzwischen nichts als ein akustisches Erkennungssymbol der Zugehörigkeit darstellt, denn auch die Zielsetzungen der hiesigen Parteien sind für den Normalbürger ident und ihre Praktiken noch identer. (...)

Liebe Freunde, erlauben Sie mir, zum Schluß zu erklären, warum ich heute hier und nicht in Prag bin. Ich möchte wiederholen, was ich unlängst im 'Mittagsjournal‘ sagte: man hat mir vor zehn Jahren meine Heimat gestohlen, also habe ich dank der jüngsten Entwicklung zwei. Man hat mich in die Welt vertreiben, also bin ich jetzt hier und versuche, sie wieder an meine Urheimat anzukoppeln. Viele Beispiele warnten mich, daß Exilanten die letzten sind, die sich nach Jahren der Abwesenheit als Ratgeber versuchen sollen. Einstweilen will ich der verheißungsvollen Sache als Informant und Kontaktmann von hier aus dienen. Bis Montag dieser Woche mußte ich in Österreich leben. Seit dem Augenblick, als mich in Bratislava hunderttausend Menschen willkommen hießen, darf ich in Österreich leben. Ich bin kein Emigrant mehr, sondern bis auf weiteres ein normaler Österreicher tschechischer Herkunft, der zwar kein Politiker sein will, seine politischen Dienste eines politischen Schriftstellers jedoch beiden Ländern anbietet.

Die künftige wirtschaftliche, kulturelle wie auch politische Partnerschaft zwischen Österreich und der CSSR verspricht eine neue, noch nicht voll einschätzbare Komponente der europäischen Entwicklung zu werden, so wichtig, daß die Bundesregierung alles unternehmen sollte, daß die Weltausstellung im gesamten Donau-Dreieck Wien Budapest - Preßburg stattfindet. Dadurch würden mittels der Slowaken auch die Tschechen jenen Ausgleich erreichen, auf den sie seit der Schlacht bei Königgrätz vergeblich warteten ...

Im Ernst: nicht nur die Sprache der Länder bedarf eines Dolmetschers, auch ihre Psychologie. Und österreichische „Behm“ wie Mlynar, Janyr, Hradil oder Kohout sind sehr wohl imstande, auch die feinsten Nuancen in beide Richtungen zu übersetzen.

Ob ich nun im Beraterstab des CSSR-Premiers nach Wien oder eher in einer Expertengruppe des österreichischen Bundeskanzlers nach Prag kommen werden - meine beiden Heimatländer werden davon profitieren.

Wien, 2.12.1989