Das Volk zieht dem Staat die Zähne

■ Vopos bewachen Stasi-Leute / Stasi-Führung tritt zurück / Betriebskampfgruppen entwaffnet / Radikale Reform des Strafrechts vorgesehen / Gewaltloser politischer Widerstand straffrei

Berlin (dpa/taz) - Alle Stasi-Gebäude werden seit Mittwoch nacht von der Volkspolizei bewacht. Damit soll verhindert werden, daß Beweismaterial beiseite geschafft wird. Am Dienstag abend hatten mehrere tausend besorgte Bürger unter Mithilfe der Kriminalpolizei das Dresdener Stasi-Haus besetzt, um die Beweissicherung zu kontrollieren. Die Besetzer fanden Spuren vernichteter Akten und reichten Stasi -Schulungsbücher und Mikrofilme herum. Ein Generalmajor führte durch die Räume, verweigerte jedoch den Zutritt zur Waffenkammer: „Ich bin handlungsunfähig“, rechtfertigte er sich später. „Kontrollgänge“ gab es auch in anderen Städten. Nach Angaben des Neuen Forums wurden bei der Aktion in Erfurt Stasi-Mitarbeiter entwaffnet und für einige Stunden in die Kantine gesperrt.

Das Kollegium des Amtes für Nationale Sicherheit (Nasi, der Stasi-Nachfolgerin) wurde am Dienstag abend geschlossen in den Ruhestand versetzt. Zum Kollegium gehören Amtsleiter Wolfgang Schwanitz, die beiden Stellvertreter des Ministers für Sicherheit sowie 17 Dienstbereichsleiter der Stasi-/Nasi -Behörde. Die SED-Grundorganisation „Untersuchung“ im Innenministerium hatte herausgefunden, „daß der Prozeß der Erneuerung im Amt für Nationale Sicherheit hinter der Entwicklung in unserem Land zurückbleibt“. Die Aufdeckung von Korruption sei nicht gründlich genug verfolgt worden, aufklärungswillige Untersuchungsführer seien nicht eingesetzt worden, kritisierte SED-Sekretär Frank Osterloh. Auch die Vopos mobilisieren: In allen Dienststellen, kasernierten Einheiten und Schulen sollen „Dienststellenräte gebildet werden, um eine nichtstaatliche, demokratische Mitwirkung in den Verwaltungen zu ermöglichen. Eine Arbeitsgruppe im Ministerium prüft, ob auch Vopo -Gewerkschaften zugelassen werden können.

Die Waffen der berüchtigten Betriebskampfgruppen, die unter anderem bei den Demonstrationen in Leipzig Anfang Oktober eingesetzt waren, sind der Vopo übergeben worden. Abgezogen aus den Betrieben wurden laut der DDR-Nachrichtenagentur 'adn‘ alle Schützenpanzerwagen, Granatwerfer, Geschütze und Flaks. Ob hinter der Maßnahme die Furcht vor einer Volksbewaffnung steht, wurde nicht mitgeteilt.

Gewaltfreier Widerstand soll in der DDR - im Gegensatz zu ihrem großen Bruder im Westen - nicht kriminalisiert werden. Der vom Justizministerium vorgelegte Entwurf für ein neues Strafrecht sieht vor, daß die Regelungen über Staatsverbrechen und Straftaten gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit reformiert und teilweise aufgehoben werden.

Das Strafrecht soll nur dort einsetzen, wo politische Ziele mit Drohung, Gewalt und Terror durchgesetzt werden sollten. Die bislang gern verwendeten Straftatbestände „landesverräterische Nachrichtenübermittlung“ und ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ sollen gestrichen werden.

smo