„Ich habe keine Angst vor der Einstaatlichkeit“

Der DDR-Autor Lutz Rathenow zu den Folgen der neuen Reiseregelung für die DDR / Schlimmer kann es nicht werden  ■ I N T E R V I E W

taz: Freut ihr euch über die Aufhebung von Visumszwang und Mindestumtausch für uns?

Lutz Rathenow: Erst einmal sehen wir das ganz positiv. Auch für ehemalige DDR-Bürger sind hoffentlich damit alle Reisebeschränkungen gefallen. Für West-Berlin ist ein touristischer Ausgleich auch unbedingt notwendig. Auf Dauer ist es ja nicht verkraftbar, daß sich alles in einer Stadt staut.

Ist denn diese Freude so ganz ungetrübt? Was ist mit der Blechlawine, die jetzt auch von West nach Ost rollen wird?

Ich glaube, daß der Reisedruck von Ost nach West immer noch größer sein wird. Welche unangenehmen Randerscheinungen das mit sich bringen kann, halte ich nicht für so erheblich. Natürlich kann das auch ein Ansporn sein, etwas aufzubauen. Jetzt wird man erst einmal sehen, wie schlecht unser Gaststättenwesen wirklich ist. Das einzige Problem sehe ich auf Dauer in der Immobilienspekulation, falls es in der DDR wirklich zu einem freien Markt auch für Grundstücke kommen sollte. Da wünsche ich mir 'daß dem ungesteuerten Aufkauf Grenzen gesetzt werden. Mein Problem ist nicht, daß ein paar Studenten, Arbeiter oder Arbeitslose gemeinsam mit einem Freund aus derDDR ein Wochenendhaus kaufen - von mir aus sollen sie das.

Und wie ist es mit Dienstleistungen? Autoreparaturen sind doch jetzt schon nur schwer gegen DDR-Mark zu haben. Wird da nicht die DM bald dieeinzige Währung sein?

Verschlimmern kann sich das bei manchen Dienstleistungen schon gar nicht mehr. Natürlich wird das Währungsgefälle immer anachronistischer. Und eigentlich gibt es perspektivisch nur die kühne Lösung einer einzigen Währung, also die Einführung der D-Mark.

Du bist dafür?

Ja, parallel zu einer linken politischen Konzeption, die von vornherein versucht, die sozialen Ungerechtigkeiten, die das mit sich bringt, auszugleichen. Zum Beispiel dürfen der Miet- und Grundstückspreis nicht dem freien Markt überlassen werden. Ich bin dafür, eine wie auch immer geartete deutsch -deutsche Lösung mit europäischer Perspektive zu durchdenken - auch wenn Versuche eines eigenständigen DDR-Weges verlockender scheinen mögen. Die Berliner Vereinigung ist ohnehin vollzogen, jeder kann sie individuell für sich ausgestalten. Ich komme aber gerade von einer Lesereise aus Thüringen zurück. Die Haltung der Leute dort ist ganz anders, und ich halte es für möglich, daß wir in einem Jahr vor einer Thüringer Bewegung stehen, die für die Herauslösung Thüringens aus der DDR und den Anschluß an die Bundesrepublik eintritt - unter bundesdeutschen Bedingungen. Ich will lieber, daß Eigenständiges gewahrt wird, um den jahrelangen Annäherungsprozeß auszuarbeiten und vielleicht sogar Impulse von hier aus in die Bundesrepublik zu geben.

Du hättest auch vor dem Begriff Wiedervereinigung keine Angst mehr?

Der Begriff läßt mich kalt. Jede Vereinigung wäre eine Neuvereinigung und hätte mit den Grenzen von 1937 nichts zu tun. Vorbedingungen wären für mich auch eine weitgehende Entmilitarisierung Deutschlands und die Anerkennung der polnischen Grenzen.

Würde denn die Währungsunion automatisch in die Einstaatlichkeit führen?

Auch vor der Einstaatlichkeit habe ich keine Angst.Ich befinde mich mit vielen anderen Menschen hier erst einmal in einem Diskussionsprozeß, wo wir Modelle durchdiskutieren wollen. Es könnte z.B. ein viel stärker föderales Gebilde geben mit bestimmten Eigengesetzlichkeiten für das Gebiet der DDR oder für die einzelnen Bundesländer wie Türingen, Sachsen, deren Wiederherstellung ja von fast allen Gruppen in der DDR angestrebt wird.

Interview: Michael Rediske