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Zur Dauerwelle nach Eisenach

■ Die Abschaffung des Mindestumtauschs wird nicht nur die reisenden Westler, sondern auch die DDR verändern

Zur Schuhreparatur nach Plauen, die gemeinsame Walpurgisnacht hexengemäß quer durch den Harz nach Wernigerode, zum Motorbootrennen auf den Müggelsee, zum Federballspielen von Kreuzberg in den Treptower Park oder zum Urlaub in Honis Gästehaus am Schwerin-See - noch setzt sich die Phantasie erst ganz allmählich in Bewegung. Die Vision einer DDR ohne Visumzwang und Mindestumtausch ist in der von 40jährigen Realitäten zugestellten Vorstellungswelt noch gar nicht richtig angekommen.

Berlin (taz) - Am deutlichsten spürbar wird der Abschied vom alten, scheinbar unverrückbaren und identitätsstiftenden Ist -Zustand in Berlin sein. War die Mauerstadt seit dem 9.November nur noch eine Halbinsel, so wird sie nach dem 1.1.1990 vollends Festland sein. Für die Kreuzberger am Rande der Mauer wird das nächste Naherholungsgebiet zum abendlichen Federballspielen der Treptower Park im Ostteil der Stadt sein, die neue Stammkneipe wird für den einst Roten Wedding auf der anderen Seite des Grenzstreifens liegensein, und der Kinobesuch „drüben“ wird eine Normalität sein, die nicht mehr mit dem obligatorischen „Eintrittsgeld“ von 25 Mark erkauft werden muß.

Längst totgeglaubte und dann wieder aktivierte S -Bahnstrecken werden den täglichen Weg zur Arbeit verändern, der häufig schneller geht, wenn man die Route durch Ost -Berlin wählt. Gierig luchsen tausende von Berliner Wassersportlern, die bisher auf dem Wannsee im „stop-and-go“ -Stau schipperten, auf die Gesamtpalette der Berliner Seen und weitverzweigten Kanäle, und die Radler können sich auf die Suche machen auf brauchbaren Landkarten für die Wochenendtouren zur Mecklenburgischen Seenplatte oder den Abendtrip rund um Potsdam.

Welche sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Folgen die „Erdung“ der Berliner Insel auf Ost-Berlin und die DDR hat, kann man zur Zeit nur an Beispielen erahnen. Genau nämlich wie West-Berlin nach der Mauerdurchlöcherung offen geworden ist für devisenbringende Schwarzarbeit zu Billiglöhnen, läßt sich absehen, daß Ost-Berlin umgekehrt zu einem Schwarzeinkaufs- und Wohngebiet werden kann.

Schon jetzt fürchtet die Westberliner Friseurinnung ängstlich, daß sich ihre Kunden - wie vor dem Mauerbau - den Männer-Haarschnitt und die Dauerwelle jenseits der Mauer machen lassen zum Preis von 1,28 bzw. 28,74 Ost. Und warum in Kreuzberg für das Bier 3,50 zahlen, wenn es in Köpenick für 1,78 zu haben ist? Frustrierte Wohnungssuchende werden sich auf die Suche nach einem Haupt- bzw. Scheinmieter in Ost-Berlin machen. Eine Billigmiete von 200 Mark, in DM-West ausgezahlt, verspricht für beide Seiten ein gutes Geschäft.

Unter ökologischen Gesichtspunkten, so meinen jedoch Bewohner der bundesdeutschen Zonenrandgebiete, die bald keine mehr sein werden, wird der kosten- und visalose Ost -West-Verkehr auch positive Aspekte haben. Für sie ist die bisher verschlossene östliche Nachbarschaft als Einkaufs oder gar Wohnungsregion kaum attraktiv, denn in Niedersachsen etwa oder Hessen ist auf der anderen Seite der Grenze einfach „plattes Land“, dessen mangelnde Infrastruktur an Gasthäusern, Skiliften oder Cafes nicht einmal sonderlich zu Wochenendausflügen lockt. Für Ökologiegruppen und politische Initiatven bietet die neue Nachbarschaft jedoch auch neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit, und rund um das Atomlager Gorleben zum Beispiel haben auch schon die ersten Ost-West-Treffen stattgefunden.

Spannend wird vor allem nun für alle Bundesbürger - egal ob aus West-Deutschland oder Berlin - die DDR als Urlaubsland sein, in das man püntklich ab 1.1.90 ohne komplizierte Einladung von „drüben“ und lange Vorausplanung reisen kann. „Ist doch klar, den nächsten Urlaub mach‘ ich auf Rügen“ wird nicht nur auf den taz-Fluren herumgesponnen, und einige sehen schon jetzt ihr Steilwandzelt am Schweriner See stehen. Vor diese Träume vom Urlaubsland DDR setzen die Tourismusexperten derzeit jedoch noch ein Fragezeichen. „Der Tourismus in der DDR wird jetzt eine rasante Entwicklung nehmen“, meint Birgit Grosz, Abteilungsleiterin- DDR in der Hamburger Zentrale von „Hansa-Tourist“, das seit Jahren auf DDR-Reisen spezialisiert ist. Bei aller Veränderung sei fraglich, ob derzeit die Infrastruktur der DDR für die Urlauber aus der Bundesrepublik ausreiche. In rund 100 Hotels hat Hansa-Tourist beispielsweise im letzten Jahr 88.000 BRD-Reisende vermittelt, mit langwierigen Vorbuchungen und Preisen von 40 DM aufwärts bis zu 180 Mark im Berliner „Palast Hotel“ oder Dresdener „Bellevue“. Doch nicht einmal für jeden dieser nur knapp 90.000 Touristen konnten Zimmer in den gewünschten Orten gefunden werden. Private Gasthäuser gibt es in der DDR zwar auch, „und wenn die sehen, daß Sie aus dem Westen kommen, werden Sie für DM vielleicht ein Zimmer kriegen“, meint der Mitarbeiter eines Berliner Reisebüros, „aber die DDR wird sicher kein Billigurlaubsland werden“, prognostiziert DDR-Reiseexpertin Birgit Grosz.

Wie es mit den Campingmöglichkeiten in der DDR aussieht, darüber wagen die Experten noch keine sichere Prognose: bisher gibt es für West-Touristen 28 internationale Campingplätze, die nur mit Vorbuchung über Reisebüros angelaufen werden konnten. In Zukunft könne man jetzt natürlich dort einfach hinfahren, nur ob man dann dort einen Platz bekommt, sei fraglich.

Deutlich spüren die Reiseveranstalter jedoch seit dem 9.November einen neuen Trend. Hotels, Gewerkschaftsbund und einzelne Betriebe bieten den westlichen Tourismusunternehmen ihre Häuser, Ferienheime und Feriendörfer zur Vermietung an. Daß dadurch den DDR-Bürgern die billige Urlaubsmöglichkeit entzogen wird, sieht die Tourismusfachfrau nicht: „Die können ja jetzt auch ins Ausland oder in die Bundesrepublik reisen.“ Und so grasen die BRD-Reiseunternehmen derzeit die schönsten Ecken und Enden der DDR ab und schöpfen aus den Angeboten, das ihnen die „von drüben“ machen. Letzte Woche z.B. wurde „Hansa-Tourist“ ein besonderes Schnäppchen angeboten: Das Gästehaus von Erich Honecker am Schwerin -See.

Vera Gaserow

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