: Wer verurteilt Schalck-Golodkowski?
■ Der „Fall Schalck-Golodkowski“ erinnert an einen langen Justizstreit der siebziger Jahre / 1972 stellte sich die 16jährige Ingrid Brückmann der Westberliner Polizei, nachdem sie ihren Vater in der DDR aus Notwehr erschlagen hatte
Das Vater-Tochter-Verhältnis war schon seit Jahren schwer belastet. Die Tochter mußte unter Zwang stehlen, sie wurde mit der Faust oder der Fahrradkette geschlagen und oft vergewaltigt. Aus Notwehr erschlug die 16jährige Ingrid Brückmann im Juli 1972 ihren Vater, den 47jährigen Heizer Harry Brückmann auf einer Müllkippe in Senzig (Kreis Königswusterhausen), als er ihr wieder einmal zwischen die Beine wollte. Nie ließ es sich genau rekonstruieren, ob Brückmann sofort tot war oder erst an den Verletzungen starb, die ihm seine Tochter „mit einem schweren Gegenstand am Hinterkopf“ zugefügt hatte. Der Obduktionsbericht der DDR -Behörden lag für immer unter Verschluß, nachdem das Mädchen zu seiner Mutter in den Westteil der Stadt geflüchtet war.
Im Oktober 1972 gestand Ingrid Brückmann die Tat der Westberliner Polizei und wurde in U-Haft genommen. Was sich zunächst als „schlichter“ Kriminalfall darstellte, nahm im Lauf zweijähriger Verhandlungen über mehrere Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht (BVG) in Karlsruhe die Ausmaße eines innerdeutschen Politikums ersten Ranges an. Die DDR -Behörden stellten einen Antrag auf Auslieferung, um das Mädchen aburteilen zu können - das hieß damals eventuell noch Todesstrafe, obwohl die DDR-Behörden eine Behandlung wie vor einem westlichen Gericht versprachen -, dem der Generalstaatsanwalt und das Kammergericht stattgaben. Der Anwalt von Ingrid Brückmann, Gerd Joachim Roos, legte Beschwerde beim BVG ein. Er stellte sich auf den Standpunkt, eine Auslieferung sei verfassungswidrig, da das Gebiet der DDR als Ausland zu betrachten sei.
Rechtliche Basis für einen eventuellen Austausch von Straftätern war das „Gesetz über die innerdeutsche Rechts und Amtshilfe“ aus dem Jahr 1953. „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden“, heißt es in §16 des GG, und gezielt verfassungskonform erlaubte das innerdeutsche Amtshilfegesetz auch nur eine „Zulieferung“, keine „Auslieferung“. Anwalt Roos hielt dieses Kalte-Kriegs-Gesetz für überholt und berief sich auf die Menschenrechtskonvention, nach der „niemand aus dem Hoheitsgebiet des Staates ausgewiesen werden darf, dessen Staatsangehörigkeit er trägt“. Da Brückmann nach ihrem Grenzübertritt als Bundesbürgerin angesehen wurde, durfte sie danach nicht an die DDR ausgeliefert werden. Außerdem konnte man nicht davon ausgehen, daß Ingrid Brückmann von einem unabhängigen Gericht angehört würde, so Roos damals weiter - er wurde jedoch in Karlsruhe abgewiesen.
Das Einschalten der obersten Verfassungshüter war schon insofern ungewöhnlich, als diese qua Grundgesetz nicht auch die obersten Hüter für Berlin waren. Auf Intervention der zuständigen Alliierten erhielten die Karlsruher Richter dann auch die Brückmann-Akten nicht, nachdem zuvor der damalige Justizsenator Korber den Bundesjusitzminister, dieser den Außenminister und der wiederum die befreundeten Botschafter unterrichtet hatte.
Die Verfassungsrichter hatten sich dennoch in ihrem Urteil eingehend mit der Berlin-Bund-Bindung befaßt und einen neuen Katalog von Kriterien für eine Auslieferung an die DDR erstellt. Abstrakt wurde in dem Urteil immerhin klargestellt, daß ein Deutscher, „wenn immer er in den Schutzbereich der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gelangt, einen Anspruch darauf hat, vor deren Gerichten sein Recht zu suchen“. Nichtsdestotrotz blieben die Berliner Kammerrichter bei ihrem Beschluß: abschieben. Im Bundestag in Bonn wurde schließlich die Lex Brückmann verabschiedet, eine Änderung des Rechts- und Amtshilfegesetzes - und der Berliner Generalstaatsanwalt hob daraufhin sein Urteil auf Abschiebung auf.
In der Hauptverhandlung vor der Jugendkammer wurde Ingrid Brückmann schließlich zu zwei Jahren Haft in Berlin-West verurteilt und sofort auf freien Fuß gesetzt, da die Strafe durch die U-Haft bereits abgegolten war. Mit dem ehemaligen DDR-Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski, der sich gestern den Berliner Behörden stellte und in U-Haft in Moabit sitzt, könnte die Berliner Justiz einen neuen „Fall Brückmann“ haben. Die DDR-Behörden haben gestern einen Antrag auf Zulieferung gestellt, der jetzt geprüft wird. „Die Rechtslage bei Herrn Schalck-Golodkowski ist ganz ähnlich unabhängig der Bewertung seiner Person“, erklärte Rechtsanwalt Roos gestern gegenüber der taz. Auch er könne im jetzigen Zustand der DDR nicht mit einem Verfahren vor unabhängigen Gerichten rechnen. Und noch eine wohl mehr als zufällige Parallele: Die Verteidigung des geflüchteten Devisenhändlers hat der ehemalige Brückmann-Verteidiger Danckert übernommen.
Kordula Doerfler
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