Am runden Tisch wird angebaut

In Ost-Berlin wurde die Verhandlungsrunde zwischen DDR-Blockparteien und der Opposition eröffnet / Mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung soll unverzüglich begonnen werden / Unabhängige Frauen und Gewerkschafter erzwangen Beobachterstatus  ■  Aus Ost-Berlin Erich Rathfelder

In Ost-Berlin haben die Gespräche am runden Tisch begonnen. Führende Vertreter der etablierten Parteien und der Opposition betonten, daß der Runde Tisch keine Regierungsaufgaben übernehmen könne und wolle. Er wolle aber eine öffentliche Kontrollfunktion in den Grundfragen der weiteren Entwicklung des Landes bis zu freien und geheimen Wahlen ausüben.

Die Teilnehmer beschlossen, unverzüglich mit der Erarbeitung einer neuen Verfassung zu beginnen. Über den Entwurf soll im kommenden Jahr mit einem Volksentscheid abgestimmt werden. Noch zuvor soll die bestehende Verfassung so geändert werden, daß Neuwahlen ermöglicht werden. Der amtierende Staatsratsvorsitzende Manfred Gerlach (LDPD) sprach sich dafür aus, auch über den Zeitpunkt der Wahlen zu entscheiden. Als Termin nannte er den Mai 1990.

Die sieben an der Gesprächsrunde beteiligten Oppositionsgruppen forderten in einer gemeinsamen Erklärung, die DDR-Regierung solle sich zu einer „geschäftsführenden Übergangsregierung“ erklären und nur unaufschiebbare Maßnahmen beschließen. Das Amt für Nationale Sicherheit müsse aufgelöst werden. Außerdem wurde der freie Zugang zu den Medien und die Herausgabe eigener Publikationen von den Oppositionellen verlangt.

Noch vor Beginn der Verhandlungen hatte es gestern nachmittag bereits den ersten Streit gegeben. Als Oberkirchenrat Martin Ziegler in dem überfüllten Tagungsraum des Dietrich-Bonhoeffer-Hauses die Verhandlungen eröffnen wollte, beanspruchten zwei Vertreterinnen der unabhängigen Frauenbewegung zwei Sitze an dem neuen Möbel.

Und auch die Gewerkschafter wollten mitverhandeln. Wie seit vorgestern auf einer Demonstration in Ostberlin zu sehen war, sind sie endlich aufgewacht, um die Demokratisierung ihrer Organisation in Angriff zu nehmen. Gestern forderten Hunderte Demonstranten vor dem Gebäude: „Gewerkschaft an den runden Tisch!“

Ein turbulenter Beginn war es also, der mit den bisherigen DDR-Gepflogenheiten noch radikaler bricht, als es mancher Verhandlungspartner am runden Tisch möchte. Sprach Ziegler am Anfang noch von der Durchsetzung des Hausrechts, um die Debatte zu beginnen, kam es nach 90minütigem Palaver dann doch noch zu einer friedlichen Entscheidung: Die Verteterinnen der Frauenbewegung bekamen für die Eröffnung ihren Sitz.

Auch die Gewerkschafter sind vorläufig aufgenommen.

Als erstes wurde gestern über die neue Zusammensetzung beraten. Hatten Opposition und Blockparteien nach dem alten Plan je 15 Sitze bei den Verhandlungen gehabt, so wird an den runden Tisch nun angebaut. Es hatte ursprünglich den Forderungen der Opposition entsprochen, die gesellschaftlichen Organisationen außen vor zu lassen.

Doch seitdem sich diese Organisationen selbst demokratisieren, fordern sie zu Recht, bei den Verhandlungen dabeizusein. Die Karten werden also neu gemischt. Entgegen der ursprünglichen Ankündigung wurde die SED durch den Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer und Rechtsanwalt Gysi vertreten und nicht durch Ministerpräsident Modrow und Herbert Krokow, wie ursprünglich angekündigt war. Die oppositionellen Gruppen, die noch am Vormittag ihre Strategie abgeklärt haben, schicken mit Ulrike Poppe und Aigila Dshussow (einem Germanisten aus Kasachstan), Ibrahim Böhme sowie Thomas Klein profilierte Köpfe in die Diskussion.