DIE RACHE DER KAKERLAKEN

■ Fotografien aus dem Museum für Völkerkunde

Die Ausstellung „Die ethnographische Linse“ des Völkerkunde museums berührt die gemeinsamen Anfänge der fotografischen Technik und der Ethnologie im 19.Jahrhundert. Wissenschaft und Medium gaben vor, die Kulturen im Moment des Umbruchs vielleicht sogar vor dem Verlust ihrer Vergangenheit - zu bewahren. Der flüchtige Augenblick der Belichtung, der als Ausschnitt der Realität diese repräsentieren sollte, erhielt für die Ethnographen, die das schlechte Gewissen der kolonialen Mächte durch die Erforschung und museale Konservierung der verdrängten Kulturen beschwichtigte, den Wert eines letzten Zeugnisses. Die belichtete Platte wurde zum rettenden Zipfel, an dem das gerade Verschwindende zu packen war und noch einmal vor das Auge des Wissenschaftlers gezerrt wurde.

„Natürlich wirkende Bilder von Eingeborenen aufzunehmen, ist nicht leicht. Befindet man sich an einem Küstenort, der mit kulturbeleckten Niggern bevölkert ist, und will man gerade - sagen wir einmal eine recht lebendig spielende Kindergruppe aufnehmen, so kann es passieren, daß sich die Kleinen unaufgefordert sofort in Reih und Glied stramm hinstellen und noch furchtbar stolz darauf sind, daß sie wissen, wie man sich beim Fotografiertwerden zu benehmen hat“, klagte der Chemiker Robert Lohmeyer in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in einem Handbuch über die Tropenfotografie. Das Dilemma der ethnologisch engagierten Fotografen war, daß sie ein vermeintlich authentisches Bild der Wildheit und Exotik verfolgten, das an den zugänglichen Orten gerade verlöschte. Viele griffen zum Mittel der Inszenierung, orientiert an den Vorbildern der Malerei, und gaben ihre Mythen als Wirklichkeit aus: es entstanden Bilder der lasziv lagernden orientalischen Schönheit oder von räuberischen Afghanen mit langen Flinten im Hinterhalt und tanzenden Aborigines vor gemalter Kulisse im Atelier als Mischung aus Fiktion und Wirklichkeit. Ethnographica wie Kostüme, Waffen, Handwerksgerät, Boote, Zelte und Gefährten und schließlich die Menschen selbst wurden zu Requisiten und Garanten der Authentizität im phantastisch-exotischen Arrangement.

Peter Bolz stellt im Katalog am Beispiel der Indianerfotografie in Nordamerika die Entwicklung einer dem sterbenden Objekt hinterherhechelnden Kunst dar. Ein großer Teil der frühen Indianerbilder entstand als repräsentative Porträts in Ateliers in Washington, wenn sich dort indianische Delegationen aufhielten. Noch bevor die Behörden Interesse für diese Dokumente der „aussterbenden Rasse des roten Mannes“ aufbrachten, hatten kommerzielle Fotografen das Geschäft mit den leicht verkäuflichen Indianerbildern entdeckt: Mit der sentimentalen Romantisierung der Wilden ließ sich jetzt, nach ihrer Besiegung, gut handeln. Zur Zeit des Eisenbahnbaus begleiteten Fotografen die Expeditionen zur Erschließung des Landes: Ihre Bilder belegten die Naturverbundenheit der Indianer gerade an jenen Orten, von denen sie in diesem Moment vertrieben werden sollten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schließlich arbeiteten Fotografen in den Reservaten, die nie an der Dokumentation des dortigen Verfalls, sondern nur an der requisitenreichen Rekonstruktion der Vorreservatszeit interessiert waren.

Die Ausstellung des Völkerkundemuseums greift großenteils auf die Sammlung der 1869 gegründeten Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte zurück und zeigt 200 Fotografien aus allen Kontinenten. Die Fotografien, von reisenden Mitgliedern der Gesellschaft aufgenommen, wurden zunächst nur geographisch geordnet. Erst spät wurde den Ethnologen die Ambivalenz der Bilder bewußt, die oft mehr über die kulturellen Muster und Interessen von fotografierenden Privatgelehrten, Kolonialbeamten, Missionaren, Historikern, Naturwissenschaftlern verraten als über den Zustand einer fremden Kultur. Im Zentrum des Interesses der noch jungen Disziplin, die analog zu den Naturwissenschaften ihre Forschung auf Daten, Statistiken und meßbare Größen aufbaute, stand die anthropologische Vermessung und physiognomische Darstellung des Menschen, um eine Klassifizierung, Katalogisierung und systematische Ordnung der Menschentypen zu gewährleisten. Doch wird dieser Gebrauch der Fotografie, die mit dem menschlichen Porträt wie mit einem toten Präparat unter dem Mikroskop umgeht, nicht in der Ausstellung thematisiert, sondern sie zeigt die Bilder als schöne Artefakte, ohne ihre Funktion im sezierenden Apparat der Wissenschaft zu visualisieren.

Der Kolonialismus, historisches Vorzeichen der Entstehung der Ethnologie, wird in der Ausstellung nur angesprochen, insofern er selbst als Prozeß der Zivilisation Thema der Fotografien ist. Ausbeutung und soziale Verelendung der Einheimischen fand kaum Eingang in die Bildarchive. Ein trauriges Dokument der Domestizierung lieferte John N.Choate mit zwei Aufnahmen von 1886 und 1887: Die erste zeigt eine Gruppe von jungen Chiricahua-Apachen nach ihrer Gefangennahme und Deportation; vier Monate später stecken sie mit kurzen Haaren und exakten Scheiteln in den Schuluniformen der „Carlisle Indian School“. Resignation und Mutlosigkeit nimmt ihnen jegliche jugendliche Leichtigkeit und Unbeschwertheit.

1875 ließ sich ein Europäer in weißem Anzug und Tropenhelm mit einer Gruppe der Bewohner der Andamanen (Südasien) fotografieren. Über die mit Schurzen und Ketten bekleideten Schwarzen, die ihm kaum bis zur Schulter reichen, blickt er hinweg in irgendeine Ferne. Kein Kontakt findet zwischen ihm und den ihn wie ein symmetrisches Ornament umgebenden Fremden statt. Sie gehören für ihn zum Landbesitz. Der über ein Herrschaftsobjekt schweifende Blick prägt die Perspektive vieler Fotografien, wenn auch selten so unverstellt.

Gewicht und Zerbrechlichkeit der Glasplatten, die bei Fotoexpeditionen von Eingeborenen getragen wurden, Hitze und Feuchtigkeit, die das Holz und Leder der Kameras angriffen und die chemischen Prozesse der Entwicklung beeinflußten, ließen die ethnographische Fotografie auch zu einem technischen Problem werden, auf das die Industrie aber im Hinblick auf die expandierenden Märkte der Kolonien bald mit tropentauglichen Kameras und Chemikalien reagierte. Über einen speziellen Angriff auf die Bilderbeute berichtete der oben zitierte Lohmeyer: „Hat man abends entwickelt, und die Platten womöglich harmlos gegen die Wand gelehnt, so darf man sich nicht wundern, wenn sie am nächsten Morgen aussehen, als ob jemand mit den Nägeln darüber hinweggekratzt habe. Man denkt natürlich als Neuling, daß der Boy der Missetäter gewesen sei, der aber zur Abwechslung in diesem Falle wirklich einmal unschuldig ist. Über Nacht sind nämlich die Kakerlaken (etwas über Maikäfer große Schaben), die unzertrennlichen Bewohner aller Tropenhäuser, über die Gelatine gegangen und haben sie zum Nachtmahl verspeist.“

Katrin Bettina Müller

„Die ethnographische Linse“, Völkerkundemuseum Berlin, bis 28. Februar 1990.