Versuch, „einige Züge der deutschen Geschichte neu zu interpretieren“

Ein Gespräch mit dem Schweizer Ethnologen und Psychoanalytiker Mario Erdheim  ■ I N T E R V I E W

taz: Endlich dürfen die für ihren Gehorsam berüchtigten Deutschen ihre Revolution feiern, und auch noch eine, mit der sie sich ohne Vorbehalte identifizieren können. Schon schwillt in den beiden Staaten, von denen zwei Weltkriege ausgingen, der Stolz über ihre bislang gewaltfreie Dimension. Wie ist diese geradezu euphorisierende Friedfertigkeit zu erklären?

Mario Erdheim: Es scheint, als sei eine neue Form von Politik möglich, weil die Identifikation mit der Herrschaft, wie sie bislang bei Revolutionen und Umstürzen auftauchte, offenbar so nicht mehr funktioniert.

Freuds Buch Totem und Tabu wirft ein interessantes Licht auf das Grundproblem der Revolutionen, auf die Gewalt. Freud beschreibt, wie sich die Söhne zusammentun, um den Vater umzubringen, und dann beschließen, den ermordeten Vater zu vergöttlichen, zum Totem zu machen. „Der Tote ist stärker als der Lebende.“ Dieser Satz hat mich immer sehr beeindruckt. Auch in der französischen Revolution wird das Königtum zwar gestürzt, aber die Entwicklung läuft im 19.Jahrhundert auf einen immer stärker werdenden Staat hinaus. Schon Tocqueville bemerkte, daß der Staat der französischen Revolution mächtiger ist als der des Ancien Regime. Herrschaft erweist sich als ein außerordentlich stabiles Gebilde. Psychologisch scheint es so zu sein, daß die Auflösung der Identifikation mit der bisherigen Herrschaft ein schwieriges Unterfangen ist. Diese Identifikation wird paradoxerweise durch die revolutionäre Gewalt, die sich gegen den Staat richtet, gestärkt. In dem Moment, da man Gewalt anwendet, kommt man automatisch in die Position des Herrschers. So man beschließt, den König zu köpfen, muß man sich auf eine überlegene Position begeben. Erst dann kann man ihn köpfen.

Die revolutionäre Gewalt scheint das Medium zu sein, in welchem sich die alte Herrschaft konserviert. Das drückt sich nicht zuletzt in den Herrschaftssymbolen aus, die beibehalten werden (Kremlpalast, Versailles zum Beispiel). Sollte es zutreffen, daß es die revolutionäre Gewalt ist, welche die staatliche Herrschaft quasi verewigt, dann kann man einige spezifische Züge der neueren deutschen Geschichte anders als bisher interpretieren.

Bislang wurde ja immer kritisiert, die Deutschen hätten sich nicht einmal aus eigener Kraft befreit, da mußten erst die Amerikaner kommen, und deshalb sei die Demokratie auch immer so schwach gewesen. Für die DDR gelten die gleichen Argumente. Auch hier sind die Bürger ja nicht von selbst überzeugte Kommunisten geworden. Möglicherweise war aber gerade dies der Glücksfall im Gegensatz zu Frankreich, wo die Resistance die Faschisten gewaltsam - wenn auch mit viel Pseudogewalt - vertrieben hat, der Staat mithin nach wie vor unangefochten ist. Die deutschen Staaten konnten sich dagegen nie in jener Legitimität sonnen, die ihnen zuteil geworden wäre, falls sie der Widerstand oder eine Revolution hervorgebracht hätte. Plötzlich schien es mir wie eine Chance, daß die Amerikaner die schmutzige Arbeit gemacht und das Nürnberger Tribunal angestrengt haben. Dieser Gedanke würde auch die starke Entwicklung der bundesrepublikanischen Ökologiebewegung erklären.

Ein Staat, der sich seiner Legitimität sicher ist, kann oft Gewalt bedenkenlos einsetzen. Seine Machthaber fühlen sich entlastet. Natürlich gilt auch, daß ein Staat, der jeder Legitimität entbehrt, zum Terrror greift, um seine Ansprüche durchzusetzen. Dazwischen gibt es einen schmalen Bereich, wo das Fehlen zum Beispiel einer revolutionär begründeten Legitimität die Machthaber verunsichern und zum Nachdenken befähigen wird. In der DDR erleben wir etwas qualitativ Neues, und es will mir wie eine Leistung der Herrschenden dort scheinen, die ja bis zuletzt Gewalt anwenden könnten, und erst wenn diese nicht mehr ausreichte, würden sie weggeschwemmt, wie im Falle Somoza. Es ist also durchaus nicht selbstverständlich, wenn sich die Kommunistischen Parteien selbst entmachten. Hier wird das eigentlich noch nicht gesehen. In der Regel war es ja auch ein Kampf.

Mag dafür nicht auch ausschlaggebend sein, daß mit dem Abgesang auf den Sozialismus der Glaube ans eigene System fehlte?

Ich kann mit der These vom Abgesang eigentlich nicht viel anfangen. Dient sie nicht nur dazu, die Spannungen, die den Kapitalismus erschüttern, unbewußt zu machen? Wenn man bedenkt, daß beim Börsenkrach im Jahre 1987 nur eine haarscharfe Kreditentscheidung ausschlaggebend war, daß das Ganze nicht ins Bodenlose stürzte, können wir uns gar nicht so sicher sein. Und ich erinnere mich an die Panik, die in der Schweiz ausgebrochen ist. Nun tut man so, als ob die Erholung völlig selbstverständlich gewesen wäre. Aber auch der jüngste Börsenkrach, der zwar von dem Erdbeben in San Franzisko überlagert worden ist, zeugt von Rissen und Spannungen in unserem System. Der Kapitalismus ist eben durchaus keine blühende Jungfer, braucht hier und da seine Tröpfchen.

Denkt man an die Notstandsgesetzgebung nach 68, so vermute ich, daß unsere herrschende Klasse eine geringere Plastizität besitzt, um notwendige Neuerungen durchzusetzen. Man kann sich hier ja nicht einmal entscheiden, die Höchstgeschwindigkeit herunterzusetzten, ohne den Sturz zu fürchten. Die Fähigkeit der Nomenklatura oder Bürokratie zu reagieren, wie sie derzeit in den sozialistischen Ländern zum Ausdruck kommt, ist also ganz erstaunlich und zeigt etwas, worüber wir nicht verfügen. Bei uns vermag der Staat ja nicht einmal den Gewässerschutz zu leisten oder sich der Frage des Atommülls zu stellen. Nicht weil er dazu nicht fähig wäre, sondern weil diese herrschende Klasse nicht imstande ist, die Instrumentarien, über die sie verfügt, auch einzusetzen.

Noch im vorvergangenen Sommer war die in der BRD herrschende Vorstellung der Lebenssituation der Menschen in der DDR extrem klischeebestimmt, gleichzeitig bestand offenbar keine moralische Verpflichtung, die eigenen Ressentiments zu reflektieren. Nirgend sonst konnte der Stolz auf die Errungenschaften der Konsumgesellschaft so unverhohlen ausagiert werden wie gegenüber den Deutschen im anderen Land, die man am häufigsten auf olympischen Siegertreppchen sah.

Tatsächlich kam man ja nicht im Traum auf die Idee, man wolle die Ferien in Dresden verbringen, es sei denn ein paar Senioren, die noch einmal in die Semper-Oper wollten. Das war natürlich auch das Ergebnis einer unglaublichen Pressekampagne. Im Bild der DDR spiegelte sich sozusagen der harte Kern des Antikommunismus. Im Falle von Ungarn konnte man noch für die Zigeuner schwärmen, das machte sogar die Geschichte von 1956 und die Funktion von Kadar vergessen. Im Falle der DDR konnte uns selbst die ungeheuer reflektierte Frauenliteratur etwa von Irmtraud Morgner oder Christa Wolf kaum ein anderes Bild vermitteln. Nun fällt zwar der Antikommunismus weg, aber mit Leuten aus der DDR konfrontiert, erlebt man gleichsam einen Flashback in die fünfziger Jahre - der ganze Habitus, die Mentalität, die Ästhetik, aber auch die Einstellung zu den Objekten, oder auch der Autoritarismus, die Verkehrsformen der Höflichkeit. Die essen wirklich immer Kuchen und denken nicht an Kalorien. Da kommt sich natürlich jeder Bundesrepublikaner als Avantgarde vor. Hier entsteht also eine Art Paternalismus und Konfrontation wie schon im Verhältnis der BRD zu den USA. Wer 1950 in die USA ging, war dort von den Apparaten, dem technischen Niveau völlig fasziniert, und nun kommt man sich selber wie der amerikanische Onkel vor. Die Frage ist, wie lange sich dieser Paternalismus, der ja auch anstrengend ist, halten wird.

Wie wird der deutsch-deutsche Kulturschock verarbeitet werden?

Da fällt mir eine Art Wachtraum ein, den mir ein griechischer Taxifahrer erzählte: Im Moment, da alle Aussiedler in den Kasernen wohnen, aus welchen die Bundeswehrsoldaten nach Hause geschickt wurden, da werden die Russen mit ihren Tanks kommen. Die Aussiedler sind also ein Art trojanisches Pferd. Dieser Wachtraum ist ein Versuch, die völlig unabsehbare Dynamik, die in der BRD jetzt ausgelöst worden ist, zu verstehen. Und man sieht, daß die alten Mythen wieder herangezogen werden.

Sehr viele Leute, die aus der DDR kommen, werden einen Haß auf alles, was mit Sozialismus zu tun hat, mitbringen und gleichzeitig sehen, daß der Westen ihnen nicht das gibt, was er ihnen verspricht. Was macht etwa die Krankenschwester, die hier zwar eine Stellung, aber keinen Platz im Hort für ihr Kind bekommt? Und sollte sie nach langem Warten doch einen Platz bekommen, werden natürlich die anderen Eltern empört sein. Die Konflikte sind also vorprogrammiert. Zur Wut auf den eigenen Staat, der einen nie die Früchte seiner eigenen Arbeit genießen ließ, kommt hier die Erkenntnis, daß man dies im Westen auch nicht kann, wenn auch aus anderen Gründen. Wird man dann zurückgehen und sich der Lächerlichkeit preisgeben oder in der BRD genauso mit dem Schicksal hadern, wie man es dort drüben getan hat? In dieser Situation wartet man womöglich schon auf einen Führer, dem man glauben darf, daß jetzt alle wieder gleich werden. Hier sind jedenfalls Tendenzen für einen neuen autoritären Staat angelegt. Natürlich entstehen hier auch Strömungen, die sich zuerst gegen die Fremden, gegen die Türken oder die Tamilen richten - ein ungeheures soziales Konfliktpotential und Turbulenzen, wie wenn zwei Flüsse von sehr unterschiedlichem Niveau aufeinandertreffen.

Welche Gefahren bergen die schon wieder populären Modelle vom „ungeteilten Deutschland im europäischen Haus“?

Wenn sich Europa wieder wie um die Jahrhundertwende als herrschende Macht konstelliert, könnte dies, wie damals, zwar ein unglaublich innovatives Potential bedeuten, gleichzeitig brachte diese Zeit jedoch all jene Theorien wie den Antisemitismus hervor, die das zwanzigste Jahrhundert derartig verelendet haben. Stärkstes Indiz für ein Wiederaufkommen solcher Tendenzen ist die ungeheure Fremdenfeindlichkeit, die sich damals besonders auf die Juden konzentrierte und sich heute besonders krass auf die 3.Welt auswirken wird. Während sich andererseits der Antikommunismus in einem Zirkelschluß auflöst, indem man postuliert, der Sozialismus sei am Ende, vor dem man dann ja auch keine Angst mehr haben muß, und wenn man keine Angst mehr davor hat, muß der Sozialismus auch zu Ende sein sonst hätte man doch Angst. Heute figuriert Khomeini als neues Feindbild. Der Islam gerät zu einer Art Vorläufer und Projektion für Tendenzen, die bei uns erst entstehen müssen. Noch gibt es zwar sehr heterogene Strömungen unter unseren Kirchen, aber ein Feindbild wie der Islam könnte darauf angelegt sein, diese Strömungen alle gleich fundamentalistisch auszurichten. Wenn man heute kritische Intellektuelle um 1900 liest, spürt man, wie sehr das Denken von Rassismus und Evolutionismus durchdrungen war. Wie kommt ein scharfer Geist wie Wittgenstein dazu, Weininger gut zu finden, oder die abscheuliche Frauenfeindlichkeit von Karl Krauss. Das faschistische Denken hat dieses verbreitete Material schließlich verabsolutiert. Es hat eben nichts Neues in die Köpfe der Leute gesetzt, sondern etwas bereits Vorhandenes herausgesogen. Heute haben wir dieses Potential in der New-Age-Bewegung. Wenn Capra beispielsweise darauf hinweist, daß sich das chinesische Zeichen für Krise aus den Zeichen für Gefahr und Chance zusammensetzt, und schlußfolgert, daß in jeder Krise eine Chance steckt, so kann man schließlich jede Gefahr abspalten und nur die Chance sehen. Dieses Denken birgt etwas gefährlich Beliebiges, wenn jemand etwa ein Bein verliert und sich darüber freuen soll, daß er jetzt nur noch einen Schuh braucht. Auf dieser Woge schwimmt ja auch die ganzheitliche Medizin. Man darf also nicht annehmen, daß der zukünftige Faschismus wieder an Rassismen anknüpfen wird, Metaphern wie ein neues Denken, ein Paradigmenwechsel, sind heute besser integriert.

Interview: Simone Lenz