Obdachlose halten her

Katastrophale Zustände im Nichtseßhaftenheim / GmbH als „Betreiber“ saniert Sozialbudget in Essen  ■  Bettina Markmeyer

Essen (taz) - Kopfschüttelnd steht Alfred K. auf dem Gang zwischen Farbeimern und Zementsäcken: „Jetzt auf einmal!“ Maler eilen durch die Zimmer, Stapel verdreckter Matratzen liegen vor einer Tür, daneben abmontierte Kloschüsseln. „Fünf Jahre ist hier gar nichts passiert.“ Noch letzte Woche konnte man das Elend im Nichtseßhaftenheim an der Essener Grabenstraße ungeschminkt besichtigen: miefige Kellerräume mit vergitterten Fenstern, in denen bis zu 15 Männer übernachten. Schmierige Fußböden, zerwühlte Doppelstockbetten, ein paar Eisenspinde, bröckelnder Putz im sogenannten Sanitärbereich, der aus ein paar Waschbecken, dreckigen Klos und zwei Duschen besteht. Es stinkt, Türen gibt es nicht, die Duschvorhänge schimmeln. Kommentar eines Bewohners: „Nur besoffen kannstes hier aushalten.“

Die hektische Übertünchaktion hat Symbolwert. Die ÖTV hatte Journalisten zum Ortstermin geladen, die Lokalpresse berichtete, und nun kommt mit den Mißständen im Obdachlosenheim ein neuer Essener Filz-Skandal ans Licht. Kern der Vorwürfe, die ÖTV und Grün-Alternative Liste (GAL) sowie Teile der SPD an die Stadtverwaltung richten: mit der Arbeit von Obadachlosen wird der städtische Sozialetat konsolidiert. Noch versucht die Stadtverwaltung, in vorderster Front Sozialdezernent Günter Herber (SPD), mit der Blitzrenovierung, die Gemüter zu beruhigen und die tiefer liegenden Ursachen der Mißstände zu vertuschen.

Das heruntergekommene Nichtseßhaftenheim wird von der gemeinnützigen Erwerbsbehinderten-Arbeitsstätten GmbH (EA), betrieben. 60 Prozent der Anteile an der Gesellschaft gehören der Stadt Essen, die restlichen 40 Prozent halten fünf Wohlfahrtsverbände (Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Deutsches Rotes Kreuz, Arbeiterwohlfahrt, Caritas und Diakonie) zu gleichen Teilen. Vorsitzender des dreiköpfigen Aufsichtsrats ist Sozialdezernent Herber. Er hatte die Schuldigen schnell ausgemacht: der Geschäftsführer der EA, Hans Heesen, und seine beiden Prokuristen, alle drei städtische Beamte. Aufsichtsrat und Gesellschafterversammlung, so Herber, seien von der EA -Geschäftsführung über die „menschenunwürdige“ Obdachlosenunterbringung „nicht informiert“ worden. Mit der Entlassung der EA-Geschäftsführung soll die Sache unverzüglich vom Tisch.

Denn die Mißstände werden zu einem Zeitpunkt öffentlich, der für Stadt und EA denkbar ungünstig ist. Am 1. Januar 1990 sollen nach einem Ratsbeschluß von SPD und CDU aus dem letzten Jahr fünf städtische Altenheime in die EA-GmbH überführt werden. Dagegen hatte sich die GAL ausgesprochen, da eine Kontrolle der Gesellschaft durch „die politischen Gremien“, so GAL-Ratsfrau Christine Weinbörner, „nur bruchstückhaft gewährleistet“ sei. Grund für das grüne Mißtrauen waren die Bilanzen der EA, die mehrere Heime für Alte, Behinderte und Nichtseßhafte betreibt, sowie einige Betriebe und einen Bauernhof. Während in diesen Resozialisierungseinrichtungen Menschen „für ein Taschengeld“ wieder „an Arbeit gewöhnt werden“, so Weinbörner, „haben die Gesellschafter, allen voran die Stadt, über Jahre hinweg Rücklagen in Millionenhöhe angehäuft“. Die Jahresgewinne der EA liegen spätestens seit Anfang der 80er Jahre jährlich bei zwei Millionen Mark. Die Rücklagen der Gesellschaft belaufen sich derzeit - bei widersprüchlichen Angaben - auf mindestens 21 Millionen Mark. Geld in dringend notwendige Renovierungen ihrer Gebäude zu stecken und die teils miserable Ausstattung zu verbessern, unterließ die EA-Geschäftsführung jedoch: Das Heim Grabenstraße ist kein Einzelfall.

In einigen der derzeit noch städtischen Altenheime muß aber ebenfalls investiert werden. Gründe für die Stadtverwaltung, die Überführung städtischer Altenheime in die EA einzufädeln, lagen denn auch nicht nur in den „Überlegungen, wie durch eine wirtschaftlichere Betriebsführung der Alten und Pflegeheime ein Beitrag zur Konsolidierung des städtischen Haushaltes geleistet werden kann“, wie es in einem internen Papier der Verwaltungsspitze aus dem Sommer dieses Jahres heißt. „Hinzu kommt, daß die EA hierdurch die Möglichkeit erhält, ihre Rücklagen bei gleichzeitiger Entlastung des städtischen Haushaltes mittelfristig für ihre satzungsgemäßen Zwecke zu verwenden.“ Im Klartext: die EA soll ihr Gespartes in die Renovierung der Altenheime stecken. Da verwundert es nicht, daß Aufsichtsratsvorsitzender Herber (und seine beiden KollegInnen) auch angesichts der hohen Gewinne aus gemeinnütziger Arbeit nicht näher hinsah, womit die EA das Geld erwirtschaftete, liegt ihm doch als Sozialdezernent durchaus an der Konsolidierung städtischer Finanzen. „Ein Aufsichtsrat, der diesen Namen nicht verdient hat“, resümierte die GAL.

Jahrelang hatten Angestellte der EA erfolglos versucht, die Zustände zu verbessern. Während jetzt im Obdachlosenheim einerweise weiße Farbe an die Wände gepinselt wird, macht die ÖTV die Rechnung auf. Beispiel Grabenstraße: Jeden Tag gehen fünf bis sechs Männer für ein paar Mark „ins Papier“, wie es im Heimjargon heißt. Das sortierte Altpapier wird an die Industrie verkauft. Auch alle Arbeiten im Heim verrichten die Bewohner selbst, dafür bekommen sie nach Auskunft der ÖTV in der Küche eine Prämie von 42 Mark pro Woche, in anderen Bereichen zwischen drei und sechs Mark pro Tag. Fachpersonal gibt es nicht. Auf der „Pflegestation“, einem einstöckigen Flachbau, in dem ältere und bettlägrige Männer wohnen, fehlt seit über einem Jahr „wegen Erkrankung“ die einzige Pflegekraft. Die Bewohner helfen sich, so gut sie können, gegenseitig. Gespart wird auch bei den Sozialarbeiter Innen. Es gibt zu wenige, und sie werden, so die ÖTV, „unterhalb aller tarifvertraglichen Vorschriften“ entlohnt - „wirtschaftlichere Betriebsführung“ eben.