Deutscher Sonderweg ist keine Lösung

■ Kommentar der SED-Parteizeitung 'Neues Deutschland‘ zur Frage der Wiedervereinigung

Wie sich die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen den zwei deutschen Staaten im einzelnen gestalten wird, darüber kann man im Moment nur mutmaßen. DDR -Ministerpräsident Modrow hat eine Vertragsgemeinschaft vorgeschlagen, BRD-Kanzler Kohl im Gegenzug seinen 10-Punkte -Plan präsentiert, der auf eine Vereinigung beider Staaten unter großdeutschem Stern hinausliefe. Nicht zu Unrecht sprechen Gegner des Planes, in der BRD wie in der DDR, vom Versuch einer Vereinnahmung.

Vor dieser für Nato-Staaten gewiß verlockenden Vorstellung graust es vielen - hüben und drüben, in Ost und in West. Das bezeugen die Reaktionen in Moskau und Washington, in Warschau und London auf das Kohl-Projekt. In einem Gespräch mit BRD-Außenminister Genscher hat Michail Gorbatschow vor provokatorischen Versuchen gewarnt, die Stabilität Europas zu untergraben.

Behutsamkeit im Umgang miteinander und mit den Nachbarn und politisches Fingerspitzengefühl sind angezeigt. Eine „gemeinsame und umfassende Meinungsumfrage“ in beiden deutschen Staaten über die Bereitschaft zur Wiedervereinigung, wie sie vom Generalsekretär der CDU, Rühe, blauäugig vorgeschlagen wird, könnte zwar das aktuelle Stimmungsbild widerspiegeln - eine Lösung des Problems böte sie nicht. Es verwundert nicht, daß der Vorschlag gerade jetzt und gerade aus dieser Richtung kommt. Nachdem auf Demonstrationen, speziell in Leipzig, verstärkt der Ruf nach „Deutschland einig Vaterland“ ertönt und sich Bürgerbewegungen und politische Gruppierungen mit dem Gedanken an eine Vereinigung anfreunden, wittert man ein gutes Konjunkturklima. „Mit Sicherheit“, behauptet Volker Rühe, werde sich „eine deutliche Mehrheit“ für die Wiedervereinigung aussprechen.

Woher, bitte, will er das so genau wissen? Bei einer im Auftrage des Süddeutschen Rundfunks in dieser Woche unter BRD-Bürgern durchgeführten Umfrage hielt jedenfalls eine deutliche Mehrheit dies nicht für die dringliche Frage, und zwei von drei Befragten gaben der Westintegration den Vorzug vor der Wiedervereinigung. Und was die DDR betrifft, so liegt neben den Ergebnissen einer Umfrage, die wir gestern veröffentlichten, eine weitere aufschlußreiche Zahl vor: 234.826 Bürger haben sich bisher mit ihrer Unterschrift unter den Appell „Für unser Land“ zu Eigenständigkeit der DDR bekannt. Und dies ist erst ein Bruchteil der geleisteten Unterschriften.