Wir werden nicht zulassen, daß die Mauer nach Osten verschoben wird

Antwort auf Adam Michniks „Fragen an die Deutschen“ (taz vom 7.12.)  ■ G A S T K O M M E N T A R

In der Tat - „wir durchleben eine seltsame Zeit, ganz Europa hat sich auf einen Weg ungewöhnlicher Veränderungen begeben“, zitiere ich zustimmend Ihre „Fragen an die Deutschen“. In die Prozesse des Übergangs von totalitär -stalinistischen Diktaturen zu Demokratien hat sich nun auch die kleine DDR eingeschaltet. Für euch war es sicher überraschend, daß dieses verschlafene Land jemals aufwacht, für uns lange erhofft und in dieser Vehemenz nicht vorhersehbar. Zu den für uns lebenswichtigen Elementen des Wandels gehörte das Ende der jahrzehntelangen Isolierung, der Fall der Mauer, des Symbols der Teilung nicht nur unserer Stadt und unseres Landes, sondern auch des ganzen Kontinents.

Es ist wahr, daß es in unseren Medien zu einer unwürdigen Kampagne gegen den „Ausverkauf der DDR“ kam, die geschickt noch oder wieder bestehende antipolnische Ressentiments nutzte, um vom real existierenden Ausverkauf der vergangenen Jahrzehnte abzulenken. Ein Teil der Bevölkerung hat diese Kampagne passiv geduldet oder sich sogar dazu hergegeben, aktiv daran mitzuwirken. Es handelt sich dabei um das altbekannte Spiel - für den eigenen Bankrott muß ein Sündenbock gefunden werden.

Nicht wahr ist dagegen, daß die demokratische Opposition zu den „gegen Polen gerichteten Haßbekundungen“ geschwiegen hätte. Wir haben noch keine eigene Presse, doch weiß ich von vielen Kolleginnen und Kollegen aus den am runden Tisch vertretenen Oppositionsgruppen, daß sie sich deutlich in der Öffentlichkeit distanzierten und gleichzeitig auf die wahren Ursachen der Wirtschaftskrise verwiesen. Ich tue es hier nochmals ausdrücklich für die Leser der 'Gazeta Wyborcza‘ und der taz. In Berlin und anderen Städten gab es auch Demonstrationen unter der Losung „Gegen Ausländerfeindlichkeit“.

Wir sollten diese jüngste Zuspitzung in den polnisch -deutschen Beziehungen zum Anlaß nehmen, bald in einen substantiellen Dialog einzutreten. Daß er in den vergangenen Jahren vernachlässigt wurde, ist unser gemeinsames Versäumnis. Über die Oder-Neiße-Grenze brauchen wir in diesem Dialog nicht zu sprechen. Sie wird von uns anerkannt, und zwar nicht nur zu 99,9 Prozent wie vom Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, sondern als endgültig und dauerhaft.

Viel größer ist die Gefahr, daß die in Berlin gefallene Mauer 100 Kilometer weiter östlich an dieser Grenze aufgerichtet wird. Nicht materiell, aber psychologisch, wirtschaftlich und damit letztlich auch politisch. Ich bin sicher, daß es in unserem gemeinsamen Interesse liegt, dieses um der Zukunft des ganzen Europa willen zu verhindern. Wir brauchen in dieser Frage Solidarität, ohne die Freiheit nicht ist.

Ludwig Mehlhorn, Ost-Berlin

Diese Antwort an Adam Michnik wird von Initiativen und Personen in beiden deutschen Staaten unterstützt, die sich für Verständigung und Zusammenarbeit mit dem polnischen Volk einsetzen: Anna-Morawska-Seminar (Polen-Seminar in Ost -Berlin), Ost-West-Forum West-Berlin, Michael Bartuszek, Stephan Dickhardt, Dieter Esche, Christian Heinrich, Ruth Ursel Henning, Gundolf Herzberg, Manuela Lerch, Marieluise Lindemann, Gerd Poppe, Bettina Rathenow, Edelbert Richter, Wolfgang Schenck, Christian Semler, Reinhard Weishuhn, Konrad Weiß