Demokratie DDR

Zwischenbericht über die Volksmacht  ■ K O M M E N T A R

Das hohe und immer noch zunehmende Tempo der Veränderung in der DDR wird durch zwei gegensinnige Triebkräfte hervorgerufen: die Flucht nach vorn eigentlich aller politischen Gruppierungen einschließlich der Regierung und der neuen oppositionellen Bewegungen. Sie alle - vom „runden Tisch“ bis zum Übergangskabinett Modrow - haben diesen einen Grundkonsens gefunden: die Radikalisierung der Massen durch ein klares, fürs Volk berechenbares Programm der Demokratisierung abzufangen. Eine Große Anti-Chaos-Koalition gewissermaßen versucht die Macht an sich zu ziehen. Demgegenüber steht die Massenbewegung selbst: In ihren Forderungen hinken sie der politischen Flucht nach vorn hinterher; in ihrer zunehmenden Wut sind sie vorneweg. Doch die Bastillen, die Winterpalais der DDR werden nicht gestürmt. Obwohl es in den letzten Tagen dramatische Ansätze gab, bei denen Schüsse hätten fallen können. Die Winterpalais und Bastilles öffnen die Pforten, um Parlamentäre, Komitees auszutauschen. Die Verteidiger sind sich nicht einig, ob sie den Endkampf führen sollen oder ob sie sich besser gleich in die Niederlage schicken. Der Realsozialismus, die Stasi-Gesellschaft wird nicht zerschlagen, sondern löst sich auf. Insofern geht die Macht wirklich vom Volke aus und bleibt vor allem bei ihm - in einem Maße, wie es im ehemals freien Westen (auch dieser Begriff ist mit der Maueröffnung verschwunden) nie denkbar war und ist.

Natürlich schießt die Volksmacht, die Demokratie der Straße, ins Machtvakuum, in die moralische Zersetzung der Regierenden und der meisten politischen Kräfte hinein. Natürlich wird von allen, die jetzt in der DDR Politik machen und sich auf den Wahlkampf vorbereiten, ein Übermaß von Demokratie auch gestattet. Aber, dies muß jetzt auch einmal festgehalten werden: Der Begriff der Demokratie hat in der DDR eine Leuchtkraft und inhaltliche Füllung, wie er sie in der Bundesrepublik nie gehabt hat. Angefangen von den inzwischen rituellen Schuld- und Schambekenntnissen der Verantwortlichen. Wie scheinheilig und opportunistisch die Staatsanawälte, Stasi-Leute, Funktionäre sich auch immer vor dem Volk entschuldigen - sie tun es. Was wäre schon an sogenannter demokratischer Kultur hierzulande gewonnen, wenn Lambsdorff, die bayerische oder niedersächsische Regierung sich gezwungen fühlen müßten, wenigstens Lippenbekenntnisse der Schuld vor dem Volk abzuleisten. Ganz abgesehen davon, wenn es bei uns das Volk gäbe und nicht den deutschen Stammtisch. In der Demokratie DDR ist jetzt schon die Straflosigkeit des gewaltlosen Widerstands garantiert, wird das politische Strafrecht überhaupt verschwinden, ein Prozeß, der unsere Sicherheitsgesetze noch peinlicher machen wird.

Die repräsentative Demokratie der Bundesregierung, die im Grunde eine Großparteienherrschaft ist, wehrt nach wie vor alle Ansätze direkter Demokratie und Kontrolle von unten ab. In der DDR hingegen wird inzwischen selbst der innerste Repressionsbereich einer demokratischen Kontrolle von unten unterworfen. Ganz abgesehen davon, daß inzwischen alles, Volkswirtschaft, Volksarmee, Verfassung, der Diskussion unterworfen ist.

Schon jetzt beginnen, gebrochen zwar, die Impulse der neuen Demokratie DDR in der Bundesrepublik zu wirken. Denkbar, daß Bonn massiv den Wiedervereinigungsprozeß bald beschleunigen will, um den möglichen Demokratisierungsdruck aus dem Osten zu brechen.

Gewiß ist das jetzt ein Übergangsmoment der „Feierabendrevolution“. Demokratie heißt ja nicht nur Volksmacht, sondern auch kontrollierbare Formen der politischen Willensbildung und des Machtwechsels. Erst mit der neuen Verfassung, dem Wahlgesetz und dem Wahlkampf wird sich abzeichnen, wie die Volksmacht auf Dauer das Regieren bestimmten wird. Die Paradoxie der Demokratie DDR ist es aber, daß sie eine Demokratie ohne Demos ist. Für die DDR -Massen zählen die Erfolge der Demokratisierung wenig. Für sie steht die DDR, das zweite Deutschland überhaupt zur Disposition. Und das ist das, was die Situation in der DDR einzigartig macht. Die Macht des Volkes besteht letztendlich darin, das es den eigenen Staat schlicht ablehnen, gegen ihn stimmen oder ihn en masse verlassen kann. Aber tun sie dies, werden sie das, was sie an Demokratie jetzt schon erobert haben, in einem wiedervereinigten Deutschland verlieren. Bringen sie diese Macht auf Dauer ins Spiel, ist das DDR -Volk auf dem direkten Weg in die Utopie.

Klaus Hartung