„Für einen alternativen demokratischen Sozialismus“

■ Der „Diskussionsstandpunkt“ des Arbeitsausschusses der SED zur Vorbereitung des außerordentlichen Parteitages (in Auszügen) / Auch „sozialdemokratische Traditionen“ erwähnt

Antifaschisten und viele Menschen guten Willens haben sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges für den Aufbau eines anderen, besseren Deutschlands eingesetzt. Sie haben das Land aus den Trümmern aufgebaut. Dazu gehörten Hunderttausende Genossinnen und Genossen unserer Partei. Dies kann nicht vergessen werden. Wir wenden uns gegen Stimmungen der Verachtung und des Hasses gegen diese Mehrheit in unserer Partei.

Wir müssen aber auch feststellen: Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands ist verantwortlich für die tiefste Krise in der Geschichte der DDR. Es ist dies die Krise des administrativ-zentralistischen Sozialismus in unserem Lande. Die bisherige Programmatik, das Statut und die Arbeitsweise unserer Partei sind untrennbar mit dieser Krise verbunden. Ein bestimmter Kreis von Parteifunktionären ist in kriminelle oder gesetzlich in keiner Weise geregelte Aktivitäten verwickelt. Nur der radikale Bruch mit den stalinistisch geprägten Grundstrukturen der SED kann jenen in unserer Partei, die sich für eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft einsetzen, eine neue politische Heimat geben.

I. Tiefgreifende Umwälzungen in den ökonomischen, sozialen, sicherheitspolitischen, ökologischen und kulturellen Existenzbedingungen der Menschheit und unseres eigenen Volkes müssen der Politik einer modernen sozialistischen Bewegung zugrunde gelegt werden. Ein stalinistischer Sozialismus kann auf keinem dieser Gebiete Lösungen hervorbringen. Im Gegenteil: Er hat zur Existenskrise der Menschheit beigetragen. Eine profitdominierte kapitalistische Gesellschaft, deren erfolgreiche Triebkraft die expandierenden materiellen Bedürfnisse sind, ist angesichts der von ihm maßgeblich verschuldeten globalen Probleme keine für die Menschheit überlebbare Alternative.

Auf individuelle Freiheit und Grundrechte gegründete Solidarität der Entwicklung aller, gleiche Bedingungen zur individuellen Selbstverwirklichung und Bewahrung des natürlichen und kulturellen Erbes der Menschheit - dies sind unsere Grundwerte. Mit ihnen werden wir uns als sozialistische Partei der DDR mit neuem Programm und demokratischem Statut in einen neuen Entwicklungsweg der DDR einbringen. Dieser von uns angestrebte Weg sozialistischer Prägung ist gekennzeichnet durch radikale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Humanismus, soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz, Durchsetzung einer wirklichen Gleichberechtigung und Gleichstellung der Geschlechter.

Diese Orientierung legt die demokratischen und humanistischen Quellen und Inhalte unserer Traditionen in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung frei und nimmt sie auf. Dazu gehören insbesondere sozialdemokratische, sozialistische, kommunistische, antifaschistische und pazifistische Traditionen. Wir schöpfen aus dem Werk von Karl Marx und Friedrich Engels, Wilhelm Liebknecht und August Bebel, Eduard Bernstein und Karl Kautsky, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Clara Zetkin, Ernst Thälmann, Rudolf Breitscheid, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl sowie aus allen internationalen linken Traditionen, insbesondere denen Lenins.

Mit dem Ende der Nachkriegsperiode eröffnen sich neue Möglichkeiten zur Lösung der deutschen Frage im Rahmen eines zu schaffenden europäischen Sicherheitssystems. Diese Chance müssen wir nutzen. Wir treten dafür ein, die deutsche Frage nicht deutsch-national, sondern im Sinne der Demokratisierung und Entmilitarisierung Europas zu lösen. Wir wenden uns an alle Mitglieder der SED, die mit unseren Anliegen und Zielen übereinstimmen, sich für eine radikal neu formierte sozialistische Partei eines demokratischen Sozialismus einzusetzen.

III. Bei den Gesprächen an den runden Tischen muß sofort ein Konsens hergestellt werden, mit welchen Mitteln das Leben, die Freiheit, die Würde und die Rechte der Menschen in unserem Land gewährleistet werden. Deshalb ist zwischen allen politischen Parteien und Bewegungen Übereinstimmung zu erzielen, bei welchen Angriffen auf Menschen, Sachen und Einrichtungen auch staatliche Gewalt eingesetzt werden darf. Wir brauchen ein neues Sicherheitsdenken, das vom Schutz des demokratischen Staates und der Rechte der Bürger ausgeht. Daraus ergibt sich eine neue Aufgabenstellung für das Amt für Nationale Sicherheit, die zu einer Einschränkung seiner Strukturen und seines Mitarbeiterbestandes führen wird.

Die Wirtschaftsreform muß sofort beginnen. Dabei wollen wir das Volkseigentum an Grund und Boden und den anderen wichtigsten Produktionsmitteln erhalten und vielfältige Formen der tatsächlichen Verfügung der Werktätigen darüber herstellen. Durch die Beseitigung von administrativ -zentralistischen Hemmnissen muß das Interesse wirtschaftender Einheiten an marktfähigen Leistungen und Produkten in vollem Maße zur Geltung gebracht werden. Die volkswirtschaftliche Planung ist auf die entscheidenden Strukturen und Proportionen zu reduzieren. Zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit sollten die Produzenten in Industrie und Landwirtschaft die notwendige Entscheidungsfreiheit erhalten und an ihren Ergebnissen direkt und ausreichend beteiligt werden.

Schnellstens sind die gesetzlichen Voraussetzungen für umfassende wirtschaftliche Kooperationsbeziehungen der Produzenten und der Kommunen mit den Betrieben und Firmen sowohl der sozialistischen als auch der kapitalistischen Staaten zu schaffen. Dazu gehören Kapitalbeteiligung, Gewinntransfer, Joint Ventures und andere Formen der Wirtschaftskooperation. Die SED unterstützt die rasche Bildung weiterer privater Klein- und Mittelbetriebe, wissenschaftlich-technischer Firmen sowie die Förderung des Handwerks.

Wir sind für die demokratische Erneuerung des politischen Systems in der DDR. Das bedingt die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Die Trennung der gesetzgebenden, der ausübenden und der rechtsprechenden Gewalt ist juristisch und tatsächlich zu garantieren. Wir sind für die Ausarbeitung eines neuen Verfassungs-, Verwaltungs- und Strafrechts sowie für die Durchführung einer umfassenden Verwaltungsreform.

Das alles bedeutet, daß sich die SED zu einem pluralistischen politischen System bekennt. Wir brauchen die Freiheit der Wissenschaft, Bildung, Literatur und Kunst und ein hohes Niveau der Kultur in Produktion und Alltag. Es wird vorgeschlagen, alle Kontroll- und Überwachungsmechanismen auf kulturellem Gebiet einzusparen bzw. auf notwendige Verwaltungsarbeit zu reduzieren. Die Partei setzt sich dafür ein, die dem Kulturbereich zur Verfügung gestellten Mittel zu einem größeren Teil in die Hand der Bezirke und Kommunen zu geben. Wir unterstützen die Entwicklung einer modernen Medienkultur mit sozialistischer Orientierung und den freien Zugang aller zu Informationen und kulturellen Gütern.

IV. Im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung lebt die deutsche Nation in zwei Staaten und Berlin (West). Die Zweistaatlichkeit der Deutschen ist zu einem unverzichtbaren Garanten für Frieden, Sicherheit und Stabilität in Europa geworden. Die Eigenständigkeit der DDR ermöglicht eine historische Chance einer deutschen Alternative des demokratischen Sozialismus in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas.

Wir unterstreichen die besondere Verantwortung der DDR und der BRD für die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Hauses. Diese Herausforderung sollte sich in einer qualifizierten Vertragsgemeinschaft beider Staaten niederschlagen, die in Zukunft in konföderative Strukturen im Rahmen einer gesamteuropäischen Annäherung münden könnte. Diese Vertragsgemeinschaft muß zu Begegnungen und Kooperationen auf allen Gebieten führen, die das Leben der Menschen in beiden deutschen Staaten schnell und spürbar verbessern. Die Hauptstadt der DDR, Berlin, und Berlin (West) sollten eine solche Zusammenarbeit entwickeln, die sie zu einer Drehscheibe des wirtschaftlichen und geistig -kulturellen Lebens in Europa macht.

Unsere Partei bekennt sich uneingeschränkt zu ihrem Bündnis mit der KPdSU und tritt für die allseitige Ausgestaltung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR ein. Für uns ist die Oder-Neiße-Grenze unantastbar. Die SED bekennt sich voll und ganz zu den Bündnisverpflichtungen der DDR im Warschauer Vertrag. Das europäische Vertragswerk, insbesondere der KSZE-Prozeß, das Vierseitige Abkommen, die Verträge von Moskau und Warschau sowie der Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der BRD, bilden integrale Bestandteile der politischen Realitäten auf dem europäischen Kontinent. Wer Frieden will, muß sich zu diesen Realitäten bekennen. (...)