NOISE POLLUTION FUSION

■ Das Berliner „Megazine HYPe“ ist ein Jahr alt und will „die Welt erobern“

Helge blieb sich an diesem Abend treu. Nachdem er sich im Frühling dieses Jahres mit dem Sänger der Flowerpornoes verabredet hatte, hatte Helge fünftausendmal vervielfältigt zu Protokoll gegeben: „Er kommt zwei Stunden zu spät. Ich liebe Unpünktlichkeit. Ja wirklich, ich bin auch immer zu spät. Aber verläßlich, eine halbe Stunde, nicht mehr und nicht weniger.“ Ulla war genau pünktlich, Helge kam dreißig Minuten später zum Treffen. Zu großen Armbewegungen redeten sie ohne Punkt und Komma über Projekte und Pläne und trommelten mit den Fingern auf dem Tisch.

Ein „Lieblingsmagazin“

Ulla Meurer und Helge Birkelbach, beide Anfang zwanzig, geben gemeinsam 70 Seiten HYPe Megazine heraus. Das erste Heft erschien im November 1988. Mittlerweile sind drei Ausgaben verlauft, die vierte so gut wie fertig. HYPe versteht sich als „Lieblingsmagazin und Trendanzeiger für alle (wichtigen) Lebenslagen“, als „unabhängiges Musik- und Kulturmagazin, das eingehend über Szene und Programm in Berlin berichtet, daneben aber auch die Kulturlandschaft im gesamten Bundesgebiet beleuchtet“. Helges Offenbarung seiner inneren Uhr bringt die Attitüde HYPes auf den Punkt: rotzig und mit den MusikerInnen auf Du. Der Selbstdarstellung folgt allerdings eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Musik und dem Weltbild der Flowerpornoes. Beides ist typisch für HYPe: Der Standort soll irgendwo zwischen Fanzine und Musikzeitschrift bezogen werden.

Die Idee, eigene Trends und Vorlieben hypen zu können, entwickelten Ulla und Helge aus ihrer Redaktionsarbeit bei Limited Edition, einem Berliner Fanzine, das seit Jahr und Tag, wenn auch nicht mehr in Flattersatz, so doch immer noch in bestem Schreibmaschinenlayout erscheint. Unzufrieden bis zum Ausstieg waren Ulla und Helge mit der inhaltlichen Ausrichtung von Limited Edition. Dort fanden sich bis vor kurzem fast ausschließlich Besprechungen von Musik aus den Endsiebzigern oder frühen Achtzigern.

Forschung in Norwegen

und Berlin

Die Redaktionssitzung an jenem Abend fand wegen Raumnöten in einem Schöneberger Cafe statt. Sofort nach ihrer Ankunft schütteten die MitarbeiterInnen Infos, Platten und fertige Artikel aus den mitgebrachten Plastiktüten. Alle sind Fans. Manche von ihnen machen selber Musik, manche haben schon für andere Blätter geschrieben, manche sammeln ihre ersten journalistischen Erfahrungen bei HYPe. Vorlieben und Aversionen der mehr als zwanzig schreibenden und sechs fotografierenden MitarbeiterInnen ergeben multipliziert eine zunächst verwirrende Vielfalt an Themen und Besprechungen ganz wie es der Konfusion in der durch Professionalisierung immer breiter gefächerten Independent-Szene entspricht.

Plattenkritiken finden in Heft drei allein auf zwanzig eng bedruckten Seiten Platz. Das ist wahre „Noise-Pollution“, wie diese Rubrik in HYPe heißt. Altbekannte Namen aus der Musikszene der Achtziger stehen neben denen, die in die Neunziger hineinsamplen, und die wiederum - und hier setzt die wahre Forschungsarbeit ein - neben Besprechungen so exotischer Bands wie Munch aus Norwegen. Ordnung in den Venylhaufen von HYPe bringen nur die grau abgesetzten Kolumnen etwa zu New Beat und Dance Samplern oder das für Laien völlig unverständliche „DJ Special“ von DJs für DJs.

Die Betonung des HYPeschen Grundsatzes, daß „daneben aber auch die Kulturlandschaft im gesamten Bundesgebiet beleuchtet werden soll“, liegt noch auf dem Wörtchen daneben. Außer in der Abteilung für Kurzartikel über Berliner Bands tauchen eben diese wieder in „a quick one“ auf, einem Sammelsurium von Neuigkeiten aus der Pop-Welt, die jedes Heft eröffnet. Konzerte werden aus organisatorischen Gründen hauptsächlich in Berlin besucht und besprochen. In dem großen Artikeln und Interviews vorbehaltenen Mittelteil verschwinden Jingo de Lunch und die Lolitas dann aber endlich zwischen internationalen Größen und nicht ganz so großen Größen. Hier finden sich Philip Boa, Metronom Baby Ford, die Psychotechniker Clock DVA und die Horrorrocker von W.A.S.p. vereint.

Sorge um

orientierungslose 17jährige

Die HYPe-MacherInnen wollen aber viel mehr, als bloße Stilvielfalt wiederzugeben und den Wunsch nach neuen Platten zu wecken: Musikgeschichte soll geschrieben werden! „In Deutschland gibt es kein Bewußtsein für Popkultur wie in England. Das versuichen wir zu ändern“, hat sich Helge wie hundert andere vor ihm vorgenommen. Ulla sorgt sich vor allem um die 17 bis 20jährigen, die in eine Musikwelt hineinwachsen, in der es unmöglich geworden sei, sich ohne Orientierungshilfe zurecht zu finden. Übermutter Spex habe hier versagt.

HYPe stößt in seinem Bemühen, aktuelle Musikgeschichte zu schreiben, nicht nur auf die Problematik des Ansatzes, Ereignisse zu behandeln, als seien sie logische Kontinuität aus den Entwicklungen der Vergangenheit, gar musikmarktimmanente Dialektik, kurz Geschichte. Viel simpler: die SchreiberInnen rollen die Historie einfach immer wieder auf, sogar zum gleichen Thema im selben Heft. Professor Dynamic gab sich da bescheidener. Er könne nicht die ganze britische Independant-Szene untersuchen, nur einen Abriß geben. Dann holte er weit aus und ließ sieben Seiten lang Bands, Labels und Fanzines von der Insel zu Wort kommen. Verglich, kommentierte und setzte ganz nebenbei die Situation der MusikerInnen in Bezug mit den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen in Großbritannien, und schon war ein Kapitel Musikgeschichte geschrieben. Das war im ersten Heft. Damit hatte HYPe aber schon alles Pulver verschossen, wie die Artikel der folgenden Ausgaben zeigen sollten.

Fanzine-Artikel sind

wie Deutschaufsätze

Aufmachung des Titelblatts, Größe, Umfang, Anordnung der Rubriken, die Überzeugung, auf der richtigen Seite des Lebens zu stehen, und, die Krönung, besonders die Gestaltung des Inhaltsverzeichnisses haben HYPe schnell den Vorwurf eingebracht, Spex imitieren zu wollen. Zufälle, Nebensächlichkeiten: Das vorliegende HYPe-Format kam beispielsweise aus Kostengründen zustande. Wichtiger ist vielmehr, daß HYPe genau am Schwachpunkt von Spex ansetzt, der zugleich deren Stärke ist. Ohne Hausaufgaben bis zur nächsten Ausgabe ist Spex von untreuen Lesern einfach nicht zu verstehen. (Ein uralter Vorwurf, den die Spex-Redaktion nur noch mit der Bemerkung vom Tisch fegt, die Verständlichkeit ihres Produktes hinge halt vom persönlichen Engagement der einzelnen ab.) HYPe dagegen kann jedeR verstehen. Die HYPe-Definition also ex -negativo? Fanzines sind nicht nur schlecht aufgemacht. „Artikel in Fanzines lesen sich wie Deutschaufsätze: Behauptung, Ausführung, Interpretation, Schluß, gähn! Von Eigenheit oder gar journalistischem Einfühlungsvermögen nicht die Bohne!“ tönt es aus dem Intro der ersten Ausgabe von HYPe. Noch halten Ulla und Helge den Kontakt zur Fanzine-Szene. Auf dem Hamburger-Fanzine-Kongreß im September aber stieß der von HYPe und Limited Edition unterstützte Vorschlag, einen zentralen Fanzine -Vertrieb zu errichten, auf den angstvollen Vorwurf, HYPe sei nur auf Profit aus. Helge ist da hart: Konkurrenz könne das Geschäft nur beleben! Dann müßten sich die kleinen Fanzines endlich einmal mehr Mühe geben.

In den Redaktionen von Spex und Limited Edition nimmt man die Kritik der neuen Konkurrenz selbstverständlich gelassen hin. Für Björn Schrenk, L.E.-Redakteur und ehemaliger Herausgeber, ist HYPe mit seiner 5.000er -Auflage noch ein Fanzine. Sebastian Zabel von Spex, verkaufte Auflage zur Zeit 20.000, hält HYPe dagegen „schon eher für eine Zeitschrift“, weil ein Fanzine - ganz klassisch - detaillierter für Fans berichten sollte, als es ein Magazin wie Spex vermag und HYPe tut. Und eins, zwei, drei, ist der selbstgewählte Standort HYPes offiziell abgesegnet.

Frauen können

Musik machen?!

Noch lebt HYPe recht und schlecht von Anzeigen, denn vom Verkauf kann es ebensowenig wie andere Blätter existieren. Von der Auflage werden derzeit 3.000 per Hand vertrieben, in Szene-Cafes, Indie-Läden oder - der Bärenanteil bei WOM neben der Kasse ausgelegt. Nichtsdestotrotz plant man die allumfassende Kulturzeitschrift. Die ersten drei HYPe-Ausgaben geben einen Vorgeschmack, was das heißen könnte. Regelmäßig erschien ein Teil mit Filmbesprechungen mit der durch alle Magazine so beliebten Bewertungsskala. Die bislang mit einem Mann hoffnungslos unterbesetzte Filmredaktion wählt subjektiv leichte Kost „für Anspruchsvolle“ aus. Zweimal wurden Comics abgedruckt, kurz ein amerikanischer Verlag angerissen oder die Londoner Clubszene vom dortigen Stützpunkt anläßlich von Ereignissen beleuchtet, denen beim Erscheinen des Heftes schon eine Schicht Staub anhaftete. Die Artikel über den Berliner Metal-Comic-Zeichner Andreas Marshal und den amerikanischen Krimizeichner Howard Chaykin bewegen sich mühevoll zwischen üblichem Mackertum und der Gewißheit, daß Frauen mittlerweile Männern auf die Feder schauen. Und in einem Artikel des ersten Heftes unter dem schönen Titel „Sex is what sales“ kam es inzwischen nach einigen Gesprächen mit Frauenbands in Los Angeles zu dem verblüffenden Schluß, daß Frauen Musik machen können.

Doch die Professionalisierung schreitet unweigerlich voran. Schon rufen die Herausgeber nach einer Endredaktion. Mit Hilfe eines kapitalkräftigen Verlegers will man ab Frühjahr 1990 monatlich oder zweimonatlich herauskommen: mit Artikeln über Bildende Kunst, Literatur und Theater, sich sich um den Themenschwerpunkt Musik(„geschichte“) gruppieren. Gleichzeitig ist auch noch eine Musiksendung geplant.

HYPe - die Pop-Enzyklopädie der Zukunft im roten Sammelordner? Das Selbstvertrauen ist schon da, wenn es nach dem Mitarbeiter Henni Hell geht, der am Schöneberger Cafetisch formulierte: „Wir wollen die Welt erobern.“

Claudia Wahjudi