Sonnengeblendet-betr.: Zur Entwicklung im Ostblock, der Einverleibung durch bundesdeutsche Parteien und zu den Pfiffen gegen den Bundeskanzler

Zur Entwicklung im Ostblock, der Einverleibung durch bundesdeutsche Parteien und zu den Pfiffen gegen den Bundeskanzler

Es ist unerträglich, wie in den letzten Wochen von bundesdeutschen Parteien versucht wird, die Reformen im Ostblock als Ergebnis ihrer Politik zu vereinnahmen und parteipolitisch auszuschlachten. Die SPD sieht ihre entspannende Ostpolitik voll bestätigt, während die CDU nicht davor zurückschreckt, die Reformen als Ergebnis ihrer konsequenten Unnachgiebigkeit zu bewerten. So kann sich jeder im Erfolg sonnen und das Sonnen blendet wohl die Sicht für die Realitäten.

Tatsache ist wohl, daß die Veränderungen in der DDR äußerst wenig mit bundesdeutscher Ostpolitik zu tun haben. Den mutigen Menschen in Ostdeutschland kommt dieser Erfolg zu, der allerdings nicht denkbar gewesen wäre, ohne den Mut in Ungarn und Polen. Dies wiederum wäre nicht möglich gewesen ohne Gorbatschows Perestroika und seine Aufforderungen an die Warschauer-Pakt-Staaten zu mehr Selbständigkeit und Demokratie.

Der Wechsel in der Sowjetunion ist der ursprüngliche Grund für die erfreulichen Veränderungen im gesamten Ostblock. Und leider hat die Bundesrepublik dazu nur wenig beigetragen. Anstatt Gorbatschows Politik zu stützen, ließ der Westen seine Abrüstungsinitiativen reihenweise und jahrelang ins Leere laufen und verglich ihn noch nach dem Rückzug aus Afghanistan mit dem NSDAP-Schergen Goebbels.

Wer so etwas sagte, ohne sich jemals dafür entschuldigt zu haben, kann sich heute nicht als Vater und Mitinitiator der Reformbewegung emporschwingen. Ich kann verstehen, wenn jemand, der sich vor eindeutigeren Worten um Polens Westgrenze herumdrückt und ständig neue Bedingungen für die Hilfe aufstellt, von DDR-BürgerInnen ausgepfiffen wird, zumal wenn er mit dem Deutschlandlied die Hymne anstimmt, die uns in den Krieg und die Trennung geführt hat. Ich kann verstehen, wenn die DDR-Reformbewegung Helmut Kohl in die lange Liste der ostdeutschen „Wendehälse“ miteinreiht, die alles mitmachen und vereinnahmen, ohne sich wirklich zu ändern.

Wenn Kohl den Menschen hüben wie drüben wirklich helfen will, sollte er die Projekte Jäger 90 und Kurzstreckenraketen schleunigst aufgeben, weil diese Waffen fast ausschließlich die Menschen bedrohen, denen er in Schöneberg die Hand schütteln und das Lied vom vereinten Deutschland vorsingen wollte. In seine Schöneberger Rathausrede hätte ein umfassendes Abrüstungsangebot gehört, damit in der DDR im Gegenzug Rüstungsgelder für die zivile Versorgung und für Reformen frei werden könnten. Dann hätte auch er ein wenig zu dem Reformprozeß beigetragen und wäre sicherlich nicht ausgepfiffen worden.

Kurt Lennartz, Aachen