Das Grabmal des Architekten

■ Zur Wiener Ausstellung : „Carlo Scarpa. Die andere Stadt“

Klaus Hartung

Der Kenner des Veneto kennt auch ihn, aber seine Wirkung ist namenlos. Ein Treppengeländer in Venedig, ein die Hand anlockender Dreiklang von Teakholz, Bronze und Eisen. Eine Verbindung von Wasser, Beton und leuchtenden Kacheln in einem Renaissance-Hof. Oder Museen, deren Abfolge von Betonebenen und Lichtregie einen unangestrengten Blick auf die Kunstwerke erlaubt. Meistens stellt man dann nebenher fest, daß die Italiener doch auf eine sehr harmonische und elegante Weise modern sind. Daß diese nationale Befähigung zur Eleganz einen Autor hat, kommt einem eher nicht in den Sinn.

Der Ort der wahrscheinlich häufigsten Begegnung mit diesem Autor ist Verona. Wer das Castelvecchio besucht, wird sich an das wunderbare Reiterstandbild des Cangrande della Scala aus dem 14. Jahrhundert erinnern. Eine Treppe leitet den Besucher auf dem Weg in den ersten Stock, dort wo die Gemälde von Bellini und Mantegna sind, um dieses Standbild herum. So sieht er im Vorbeigehen den Triumph des Condottiere, der Roß und Welt beherrscht, bis er plötzlich in aller Nähe das Gesicht erblickt, das olympische Gelächter des einstigen Herrschers von Verona. Der Besucher fragt sich nicht, wer wohl sein Auge unauffällig und nachdrücklich zugleich zu den Gegenständen leitet. Den Hinweis des Stadtführers hat er wahrscheinlich schon überlesen: „An dieser Stelle und in dem 'reggia‘ genannten Gebiet wurde dank der unermüdlichen, intelligenten und peinlich genauen Arbeit von C. Scarpa und L. Magagnato eines der rationellsten Museen Europas eröffnet.“ Um C. Scarpa, Carlo Scarpa, handelt es sich. Seine namenlose Wirkung ist sein Werk.

Die Beschreibungen seines Werkes benutzen fast unvermeidlich das Epitheton „meisterlich“. Ich halte mich nicht für einen Meister, sagt Scarpa selbst, 1976. Nichts wäre falscher, als diesen Satz als Ausdruck von Bescheidenheit zu verstehen. Er besagt eher, daß Scarpa mit absoluten Ansprüchen umgeht. Als Einzelgänger gilt er. Er kam aus keiner Schule, hatte keine Schule gegründet. Was er nie betrieb, war „Architekturtheorie“, fremd war ihm jene Kategorie moderner Architekten, die zugleich Feuilletonisten ihres Bauens sind. Er hat auch nicht mit Architekten-Jet-Set in Wettbewerben konkurriert. Er lieferte ja nie im üblichen Sinne einen Entwurf ab, sondern der Entwurf war bloß der Anfang eines Prozesses, der eigentlich nicht abgeschlossen wurde, sondern nach überlanger Bauzeit zum Stillstand kam. So etwas kann im Grunde ein öffentlicher Bauherr nicht dulden. Gewiß, sein Name hat in Architektenkreisen einen guten Klang. „Architektur vom Feinsten“. Genauere Bestimmungen werden aber dann schon ungenau: „wunderbare Details“, „poetische Architektur.“ Zu den Namen Frank Lloyd Wright und Alvar Aalto wird er in Beziehung gesetzt, setzt er sich selbst in Beziehung. Aber wenn er über sich selbst spricht, dann kommt eine Ironie auf, aus der eine große Selbstgewißheit spricht, die sich aus anderen Quellen speisen muß als aus der Geschichte der modernen Architektur.

Um die Wahrheit zu sagen, ich bin ein Erbe jener Schule, die zurückgeht auf das Monument des Vittorio Emanuele II. in Rom. Ich war nämlich der beste Schüler meines Professors, und dieser wiederum war der beste Schüler seines Professors, der der Erbauer dieses Monuments war. Wie bitte, fragt man sich. Jene erstarrte Expressivität, jene Marmorsahne, die über den Campidoglio gespritzt wurde, jenes Monument, das einer überdimensionalen Remington-Schreibmaschine aus frühen Zeiten gleicht, in deren Mitte ein zu klein geratener König in den Nationalstaat reitet; darauf sollte sich Scarpa beziehen? Ein anderer Ausspruch von Scarpa: Ich habe gearbeitet, d.h. ich habe ein paar Arbeiten gemacht. Ich bin ein Spezialist - ich sage das nicht ohne Anflug von Ironie, denn man muß sich vor allen Spezialisten hüten, auch wenn die moderne Welt sie so sehr liebt - für Ausstellungsgestaltung und Museumsbau geworden. Fast wurde ich ein „Museograph“. Was ich gemacht habe, sind kleine Arbeiten, sind keine Monumentalbauten. Das sind keine Selbstmystifikationen, es sind Variationen der Abwehr von architekturgeschichtlichen oder stilistischen Legitimationen seiner Arbeit. Auch wenn er sich als Einzelgänger erklärt, liebt er offensichtlich allzu geistvolle Interpretationen seiner Einzigartigkeit keineswegs.

Was ich gemacht habe, sind kleine Arbeiten... - diese Bemerkung von Scarpa ist sachlich gemeint. Sein Werkverzeichnis ist nicht sehr umfangreich: Erweiterungsbau der Gipsoteca Canoviana in Passagno (1955-57); Haus Veritti in Udine (1955-1961); Museum Castelvecchio in Verona (1956 -1964); Olivetti-Ausstellungsraum am Markus-Platz in Venedig (1957-1958); Umbau des Palazzo Querini in Venedig (1961 -1963); Hauptfassade des italienischen Biennale-Pavillon (1968); Umbau des Hauses Zentner in Zürich (1964); der Friedhof Brion in San Vito di Altivole, Treviso (1969-1975); Erweiterungsbau der Banca Populare in Verona (begonnen 1973, 1981, nach seinem Tod im Jahre 1978, fertiggestellt); der Garten der Villa li Palazetto in Monselice (1974-1975); Haus Ottolenghi in Bardolino (1974-1979); Eingang der Fakultät für Sprachwissenschaften und Philosophie der Universität Venedig (1976-1978). KLeine Arbeiten, Umbauten, Erweiterungsbauten - aber betrachtet man sie, dann öffnet sich eine Welt von nie gesehenen Formen, Gebrauchsgegenständen, Materialbeziehungen. Die Umbauten sind von authentischer Moderne, von schärfster Gegensetzung in Form und Material gegenüber dem historischen Bau. Und dennoch verschwinden sie fast gegenüber dem Alten, zeigen sich erst dem zweiten Blick. Die Neubauten wirken, als ob sie schon immer an diesem Ort gestanden haben, als ob sie notwendig zu diesem Ort gehören, vom Genius loci in prima persona produziert. Der Friedhof Brion ist inzwischen zum Wallfahrtsort von Architekturstudenten geworden. Erste Näherung

Was ist das Besondere am Einzelgänger Scarpa? Beginnen wir der Einfachheit halber mit einer negativen Bestimmung. Scarpa ist kein Soziologe. Gesellschaft ist für ihn ein Kosewort für Leben. Damit unterscheidet er sich fundamental von der modernen Architektur. Spätestens seit der Charta von Athen ist die Architektur-Moderne praktizierte Soziologie, eine Soziologie ohne die üblichen methodologischen und kritischen Korrekturmöglichkeiten. Die moderne Architektur hat den Massenmenschen, das Produkt des Industrialismus, ins Visier genommen; bestimmt seinen Alltag, seine Funktionen, seine Entfernungen zur Arbeit, zur Freizeit, zur Öffentlichkeit. Ganz selbstverständlich maßt sich der Architekt an, in welchen Räumen Eltern und Kinder zusammenkommen, wie nah sich Nachbarn sein sollen. Erfolgreicher noch als die Verkehrsplanung vermasst sie das Individuum. Ihr Anspruch ist totalitär, ganz gleich, ob ihre Sozialpolitik fortschrittlich, sozial oder schlicht menschenfeindlich ist. Dieser Anspruch verbindet den Karl -Marx-Hof mit der Cite radieuse. Gerade weil diese totalitäre Sozialpolitik im Herzen des Architekten ungebrochen ist, herrscht ein verschleiernder Stildogmatismus, ein Zwang zur Gleich-Förmigkeit. Das gilt selbstverständlich auch für die Postmoderne, die in ihren grobschlächtigen Zitaten traditioneller Maße und Formen ganz selbstverständlich die „Gestaltung des öffentlichen Raums“, den Wechsel von Außen und Innen beansprucht. Scarpa widerspricht diesem Bauen mit einem Prinzip, dessen Schlichtheit von größter Radikalität ist: dem Prinzip der Harmonie. Harmonie entspringt den Gegebenheiten, dem Himmel vor Ort, der Landschaft, den Materialien, der Nutzung. Harmonie läßt sich nicht wiederholen, läßt sich nicht entwerfen, wird schon gar nicht zwischen Finanzplan und Entwurf gezeugt. Harmonie ist bodenständig. Und der Boden von Scarpa ist eine Kulturlandschaft, ist die Geschichte der Lagune, ist das Handwerk der Serenissima, das aus dem Orient, aus Byzanz nach Venedig kam. Zweite Annäherung

1903 in Venedig geboren, umgezogen nach Vicenza; die Kindheit, häusliche Schneiderei, das Zeichnen, die Stadt Palladios. Scarpa ist vor allem Zeichner, folgt dem Lebensprinzip Albertis: nulla dies sine linea. 1916 scheitert er folgerichtig bei der ersten Aufnahmeprüfung zur Kunstakademie, wegen des Zeichnens. Damit beginnt die abgründige Ironie seines Lebenswegs. Daß er Architekt wird, ist eine nicht beschlossene Entscheidung. Wegen einer gesetzlichen Lappalie ist er nach seiner Lehrzeit nicht berechtigt, den Titel Architekt zu tragen. Selbst noch den letzten großen Auftrag zum Friedhof Brion muß ein Assistent unterzeichnen. In den fünfziger Jahren wird er in mehreren Prozessen wegen unberechtigter Berufsausübung verklagt. In dieser Zeit entwirft er Murano-Gläser von höchster Vollendung, in einer so aufwendigen Arbeitsweise, daß die erste Werkstatt wirtschaftlich ruiniert ist. Die Gläser selbst sind kaum noch vorhanden. So vollendet, wie sie waren, so zerbrechlich waren sie auch. Seit den sechziger Jahren gestaltet Scarpa die Kunstbiennale in Venedig, er ist die Biennale. Er wird für zwei Jahre zum Leiter der Architekturfakultät gewählt, gleichzeitig scheitern die Versuche, ihn wenigstens zum Architekten honoris causa zu ernennen. Als 1978 endlich beschlossen wurde, ihm diesen Ehrentitel zu verleihen, war das dafür festgesetzte Datum genau der Tag nach seinem Begräbnis. Seine Bauten dauerten, waren teuer, obwohl er daran kaum reich wurde. Im Grunde war er der Meinung, daß ein Hausbau sich nicht beenden läßt. 1969 bekam er den Auftrag zur Gestaltung des Grabdenkmals für das Ehepaar Brion, einer trevisanischen Industriellenfamilie. Mir hätten 100 qm genügt, sagte Scarpa. Da aber der Grundbesitzer die Gelegenheit erkannt hatte, zwang er die Familie, 2.200 Quadratmeter zu kaufen. So entstand in einer siebenjährigen Bauzeit jenes einzigartige Architekturdenkmal. Eine Totenstadt als Utopie der menschlichen Behausung. Im Veneto werden die Toten heute in Schachteln bestattet. Es gibt sogar Friedhöfe, wo die Toten mit dem Aufzug verschickt werden. Veneto ist zum Glück dünn besiedelt, und die Bevölkerung ist eher ruhig. Ich wollte zeigen, wie man es machen könnte, wie man sich im sozialen und zivilen Sinne dem Tode gegenüber verhalten könnte, was der Sinn des Todes, des Vergänglichen sein könnte, anders als diese Schachtelwirtschaft. Die andere Stadt

Dieser Friedhofsanlage ist die Ausstellung Die andere Stadt im Österreichischen Museum für angewandte Kunst, Wien, gewidmet. Eine außergewöhnliche Ausstellung: Sie verzichtet auf jede Museumspädagogik. Vier Elemente sind zu sehen: ein großer Eingangsraum mit einem Besichtigungsgang aus ungehobeltem Fichtenholz. Er erlaubt einen Blick auf eine Skulptur Donatellos, die auf einem Kachelfußboden (eine irritierende Kombination von Marmor- und Tonkacheln) steht, der im Gemälde „die Geißelung Christi“ von Piero della Francesca zu sehen ist. Dann folgen zwei Stockwerke, in denen 1.200 Zeichnungen Scarpas zum Friedhof Brion auf Tischen ausliegen. Zwei kleine Modelle geben ein wenig Orientierung. Es ist ein Ausschnitt von unendlicher Rastlosigkeit, von Vervollkommnungsarbeit auf dem Wege zur Ewigkeit. In dieser Abfolge der Zeichnungen ein kleiner Schaukasten mit Gebrauchsgegenständen aus diesem Friedhof: Scharniere, Klinken, Kerzenhalter. Gegenstände, die den Gebrauch zum Genuß machen und doch absolute Kunstwerke sind. Und dann gibt es noch einen Film über den Friedhof, mit sehr viel Orgelklang und philosophischem Text. Aber das macht nichts. Den Film verläßt man mit einem veränderten inneren Auge. Plötzlich erscheint alle heutige Architektur wie ein trauriger Lunapark toter Formen.

Dieser Friedhof also: Die weiche Abfolge von Räumen, die trotzdem ihre Bestimmtheit nicht verlieren, die Durchgänge, die Propyläen, die meditativen Inseln, die Kapelle, die sich zuneigenden Gräber des Ehepaars Brion, die stillen Wasserflächen, manchmal tief, manchmal Überflutungen, manchmal glänzende Rinnsale. Der Verweis auf Japan wäre an dieser Stelle. In der Tat bezieht sich Scarpa auf den Shintoismus. Aber auch das ist nur ein Wort gegenüber einem völlig eigenem und namenlos Allgemeinen. Enge Pforten mit piraniesischen Durchblicken, Lichtregie in vielfachen Materialfarben; irdisch Schweres, das unvermittelt schwebt. Ein schwerer Holzkasten auf filigranen Trägern (gebrochenen doppelten Stahlstützen), eine Betontür, die sanft zur Seite gleitet. Eine Architektur zum Tasten: Betonflächen mit Holzmaserung gehen plötzlich in graues ungehobeltes Holz über. Rauh auf Glatt, Warm auf Kalt. Materialharmonien von poliertem Messing, Holz, Glasfluß, Beton, Edelstahl, Marmor, Wasser und Pflanzen. Alle Elemente des Friedhofs, der Eingang, die Durchgänge („percorsi“), die Grabüberdachung („Sonnenbogen“), die Kapelle, schweben zwischen ihrem funktionellen Sinn und absoluter Skulptur. Der Grundton kommt vom Beton, dessen ruhige Flächen das Auge von Detail zu Detail locken: Mosaikbänder, eingelassene Bronzen, Treppenornamente, Durchblicke. Unendlichkeit im überschaubaren Raum. Scarpa: Ein großes Kunstwerk hat immer kleine Dimensionen.

Als Scarpa an diesem Grabmal zu arbeiten begann, schrieben die revolutionären Studenten „Porco Scarpa“ und „Nieder mit den Kapitalisten“ an die Mauern. Scarpa meint dazu: Ich möchte sogar sagen, daß ich eine nahezu soziale Idee hatte, nämlich, daß dieser Ort allen gehört: Kinder können darin spielen... Das heißt, dieser Ort ist so gestaltet, daß man auch seine Toten mit heiteren Gefühlen grüßen kann. Dieser heitere Ort der Vollendung wurde auch das Grabmal Scarpas, der sich nie offiziell Architekt nennen durfte. Er hatte auch einige Zweifel an seiner Größe: Von Frank Lloyd Wright, Luis Kahn, Alvar Aalto sagt er: Sie alle legten wenig Wert auf das Essen, und so dachte ich mir, daß eine höhere Qualität an Geistigkeit nicht sehr an die Nahrung gebunden sei. Als ich jung war ... wog ich siebundfünfzig Kilo, heute wiege ich neunzig. Und da ich es liebte, gut zu essen, dachte ich: Oh, wie schade, ich werde nie ein guter Architekt.

Die Zitate von Carlo Scarpa sind seinem Vortrag „Kann Architektur Poesie sein?“ entnommen, gehalten am 16. November 1976 in Wien. Abgedruckt in dem sehr schönen Katalog „Carlo Scarpa. Die andere Stadt“, herausgegeben von Peter Neover, Leiter des Österreichischen Museums für angewandte Kunst. Die Ausstellung selbst ist gesponsert von Luciano Benetton, der mit dem Sohn Scarpas befreundet ist. Kaum denkbar, daß die öffentliche Hand eine derart lakonische Ehrung eines Meisters unterstützt hätte. Die Ausstellung bleibt bis Ende Januar in Wien.