Kein „dritter Weg“ für die CSSR

Der „Prager Herbst“ hat den „Frühling“ schon überholt  ■ G A S T K O M M E N T A R

Eine neue Regierung, in der die Kommunisten in der Minderheit sind, ein parteiloser Präsident in Sicht, der außerordentliche Parteitag vom Januar auf den 20.Dezember vorverlegt, die freien Wahlen wahrscheinlich schon im März das alles nur drei Wochen nach der blutigen Studentendemonstration vom 17.November, knapp zwei Wochen nach dem Generalstreik. An dem Tempo, mit dem die Tschechoslowakei nun die anderen Bruderstaaten ein- und überholt, merkt man, daß die Tschechen und Slowaken um die Erfahrung des Prager Frühlings älter sind. Im Vergleich mit der Entwicklung in der DDR wird es besonders deutlich: Während in der DDR der demokratische Sozialismus noch ein Thema ist, spricht man in der CSSR nur noch über die Demokratie und den Rechtsstaat. Während in den Diskussionen in der DDR noch die Reste des utopischen Glaubens an den besseren Sozialismus spürbar sind, wollen die Tschechen kein ideales, sondern einfach ein funktionierendes Staatswesen, dem man Vertrauen schenken kann. Alexander Dubcek, als Mensch geachtet und geliebt, spricht als Politiker ins Leere, wenn er den Sozialismus mit dem menschlichen Antlitz beschwört. Der „Prager Herbst“ ist eben kein „Prager Frühling“. Der „Prager Frühling“ begann als eine Reformbewegung innerhalb der Kommunistischen Partei. Der Prager Herbst ist das Werk der Opposition außerhalb der Partei: der jungen Generation und der schon länger existierenden Gruppen um die Charta 77.

Der „Prager Frühling“ wurde getragen von der Generation der um 1920 Geborenen, die aus dem Wertvakuum nach dem Münchener Abkommen während des Krieges zum Marxismus als einem neuen Wertsystem fanden. Über den Widerstand führte ihr Weg in die KPTsch. Sie waren das begeisterte Fußvolk des Umsturzes im Februar 1948. Ihre Enttäuschungen über das, was danach kam, ihr Gefühl, von den stalinistischen Funktionären mißbraucht zu sein, gekoppelt mit dem tiefen Glauben an einen besseren Sozialismus stellten die wichtige Motivation ihres Handelns im Jahre 1968. Diese Vision, der sich das ganze Volk angeschlossen hatte, haben die sowjetischen Panzer niedergewälzt. Mit den Säuberungen danach hat sich die KPTsch selbst den Todesstoß gegeben, heute ist in ihr, wenigstens in der Führung, kein nennenswertes Reformpotential zu finden. In der Generation der über Vierzigjährigen KPTsch-Mitglieder mögen vielfach gute Fachleute sein, ihre Zivilcourage ist allerdings auf der Strecke geblieben, als sie den Rausschmiß ihrer „Väter“ während der Normalisierung erlebten. Deswegen hat es in der CSSR so lange gedauert, deswegen geht es jetzt so schnell.

Vaclav Havel, die Vertrauensfigur des „Prager Herbstes“, kommt aus einer anderen Tradition: aus der demokratischen Tradition der ersten Tschechoslowakischen Republik. Ihm und vielen in seiner Generation präsentierte sich der Marxismus nicht als die befreiende Vision einer besseren Gesellschaftsordnung, sondern als ein System der wirklichkeitseinengenden Lehrsätze. Den jungen Tschechen und Slowaken hatte der reale Sozialismus der siebziger Jahre überhaupt nichts mehr zu bieten. In einem Staat, in dem das Regieren im Verbieten besteht, wird jede Aktivität letztlich ein Politikum. Das erklärt die politische Reife der Masse der Jugend. Man hat das Gefühl, daß durch die Begegnung mit diesen jungen Menschen, die buchstäblich nichts mehr als ihre Ketten zu verlieren hatten, der Intellektuelle Havel zum Politiker wurde.

Es bleibt die Frage: Wird er auch Präsident? Kann sich der Bürgerrechtler Havel, wenn er aufgestellt wird, überhaupt von dem Parlament wählen lassen, das vor einem Jahr die scharfen Demonstrationsgesetze verabschiedet hat? Und umgekehrt, können diese Parlamentarier den früheren „Volksfeind“ wählen, wenn sie den letzten Rest ihrer Menschenwürde nicht verlieren wollen? Alena Wagnerov

ist Schriftstellerin und lebt in Saarbrücke