Die Niederlage ist allumfassend

Michael Brie gilt als radikaler Reformer und ist Mitglied der SED-Reformergruppe um das Forschungsprojekt „Moderne Sozialismuskonzeption“, die erheblichen Einfluß auf die Ausarbeitung der neuen SED-Position hatte  ■ I N T E R V I E W

taz: Herr Brie, sind Sie mit dem bisherigen Verlauf des Parteitages zufrieden?

Michael Brie: Nun, muß man natürlich sehen, daß der Arbeitsausschuß nur vier, fünf Tage Zeit gehabt hat und mit sehr heterogenen Aufgaben betraut war, konzeptionell, organisatorisch und personell wieder bei null angefangen hat. Daraus sind aber auch alle Probleme des Parteitages, so wie wir sie jetzt erleben, erwachsen. Das heißt, daß die Partei in diesen Prozeß auch geistig ohne große Vorbereitung hineingegangen ist: Es ist vorher kein Verständigungsprozeß gelaufen, und die Diskussionsbeiträge sind geboren aus den unmittelbaren Nöten, die die Partei hat, die die Parteimitglieder in der Konfrontation mit den Bürgern spüren. Aber es ist keine konzeptionelle Verarbeitung von unten. Das wäre wahrscheinlich auch ein bißchen zuviel verlangt. Bis jetzt ist das in hohem Maße ein Zersetzungsprozeß alter Vorstellungen und eine daraus hervorgehende Abwehrhaltung gegen das, was gewesen ist, ohne daß genauer bestimmt werden kann, wie es positiv weitergehen soll für diese Partei, für das Land.

Verglichen mit dem letzten Parteitag 1986 sind Veränderungen unübersehbar. Wie tief gehen sie tatsächlich?

In der Partei sind schon seit längerer Zeit, eigentlich auch schon vor 1985, aber vor allem seit dem Beginn der Perestroika, tiefgreifende Bewußtseinsveränderungen vor sich gegangen: über das Selbstverständnis von Sozialismus, von Partei, von Kapitalismus, von Epoche. Diese Prozesse haben wie eine Lawine langsam begonnen und dann ein immer rasanteres Tempo angenommen.

Eigentlich müßte es ja Strömungen in der Partei geben. Aber die einzigen, die erkennbar sind, sind die Reformer. Diejenigen aber, die über so lange Zeit die Politik der Partei bestimmt haben, die den Apparat in der Hand haben, sind als Strömung überhaupt nicht identifizierbar.

Ja, aber doch nicht im zukünftigen Parteivorstand.

Aber sie kämpfen auch nicht.

Sie können auch nicht kämpfen, weil die Niederlage so umfassend ist. Die Niederlage datiert nicht erst seit Oktober. Von den Positionen her ist das Ganze schon zuvor völlig untergraben gewesen. In der Defensive befindet sich dieser Teil der Partei mindestens schon seit zwei Jahren, mindestens. Seither weicht er immer weiter zurück, auch wenn er aggressiv geblockt hat. Dadurch ist dieser Teil völlig diskreditiert. Er kann sich wieder neu formieren, das ist eine andere Frage. Aber er ist jetzt erst einmal völlig erledigt.

Der künftige Parteivorsitzende Gregor Gysi ist von seinem ganzen Auftreten her ein Intellektueller. Wie groß ist die Bereitschaft, ihn als den Repräsentanten der Partei zu akzeptieren?

Die ist groß. Wie lange sie groß sein wird, weiß ich nicht. Ich hatte natürlich das Gefühl, daß der größere Bezugspunkt die Solidarität mit Modrow ist. Man muß sehen, wie sich Gysi auf die Dauer profiliert.

Was erhofft sich die Partei davon, wenn sie einen Gysi zum Vorsitzenden macht?

So kann man die Frage zur Zeit nicht stellen, weil ja keine größere Auswahl da ist. Das Problem ist, daß unsere Partei wie auch andere Parteien in unserem Lande - nicht über ausreichend bekannte Politiker verfügt. Der Mangel im politischen Leben drückt sich darin aus, daß politische Figuren einfach fehlen. Gysi ist sicher einer von denen, die die Voraussetzungen dazu bieten: Er ist unbelastet, hat sich profiliert in einer Reihe von Sachen, hat in der letzten Zeit sehr energisch und meines Erachtens auch sehr gut Position bezogen. Er ist einer der wenigen, die man überhaupt wählen konnte.

Ich kann mir bei Gysi sehr gut vorstellen, daß er etwa bei Gesprächen am runden Tisch seine Gesprächspartner oder auch politischen Gegner brillant über den Tisch zieht. Aber ich kann mir nur schwer vorstellen, daß Gysi etwa in einem Betrieb spricht und das traditionelle, gewerkschaftlich -populistische Element bringt.

Doch, das kann er auch. Ich habe ihn am letzten Sonnabend vor dem Zentralkomitee reden hören. Als er dort gerufen hat: „Jetzt reicht es!“, wie er dort aufgetreten ist - das war gut. Ich glaube, daß das oft dümmliche Populistische, das es bei uns gab - Harry Tisch, teilweise auch Krenz -, bei den Arbeitern nicht zieht. Und dann muß man natürlich sehen, ob die Partei in der Lage ist, schrittweise verschiedene Führungspersönlichkeiten herauszubilden, die verschiedene Strömungen, verschiedene Interessen, verschiedene Gruppierungen vertreten. Dazu ist die Partei zur Zeit nicht in der Lage.

Ein Zwischenresümee?

Das Hauptproblem dieses Tages ist gewesen, eine vor der Parteibasis und vor den anderen politischen Kräften legitimierte Führung auf der Basis ganz bestimmter Grundsätze wiederherzustellen: Wir brechen mit einem bestimmten Typ des Sozialismus, wir brechen mit einem bestimmten Typ von Partei, und wir brechen auch mit diesem Parteinamen.

Welcher Parteiname schwebt Ihnen vor?

Sozialistische Partei der DDR.

Abgekürzt: SPD...?

...der DDR!

Interview: Walter Süß