SED auf der Suche nach dem dritten Weg

■ Auf ihrem außerordentlichen Parteitag mühte sich die SED um Einheit und neues Selbstverständnis

Auf dem Erneuerungsparteitag in der Ostberliner Dynamo -Sporthalle begnügten sich die Delegierten mit einer eher halbherzigen Debatte über die Verantwortung der Partei für die Krise des Landes. Dominierend war die Angst vieler Genossen vor der drohenden Selbstzerfleischung und Spaltung der Partei.

„Wir haben den Bruch mit dem Stalinismus vollzogen“, resümierte der neue Hoffnungsträger der SED, Gregor Gysi, nach seiner Wahl zum Vorsitzenden das Ergebnis des außerordentlichen Parteitages. Doch daß die 40jährige Stalinismustradition der SED mit der hektisch einberufenen Marathonveranstaltung in der Berliner Dynamo-Sporthalle schon überwunden wurde, das glaubt auch Gysi nicht. Der lange und schwierige Prozeß der Loslösung von stalinistischen Vorstellungen und Strukturen steht auch nach seiner Einschätzung erst noch bevor.

Wenn der Parteitag ein Signal für den Erneuerungswillen der SED gegeben hat, dann war es die Wahl Gysis selbst. Ein Intellektueller an der Spitze der - ehemaligen - Arbeiter und Bauernpartei, der Rechtsstaatlichkeit und Meinungspluralismus nicht erst in den letzten Wochen als unverzichtbare Grundlagen eines demokratsichen Sozialismus entdeckt hat. Deutlicher noch als Berghofer und Modrow repräsentiert er die Überwindung eines administrativ -zentralistischen Sozialismus, an der sich die Zukunft der SED entscheiden wird.

Doch die eindeutige Antwort auf die Erneuerungs- und Überlebensfähigkeit der Partei, die in den letzten Wochen 500.000 Mitglieder verloren hat, konnte der Parteitag nicht geben. Zu oberflächlich blieb die Debatte über die Parteivergangenheit. Deutlich moderierte die Angst vor Selbstzerfleischung und Spaltung der Partei die Abrechnung mit der bisherigen Politik. Kein Interesse der über 2.700 Delegierten kam klarer zum Ausdruck als der Wille nach Bewahrung der Einheit. Mit überwältigender Mehrheit wurde die faktische Neugründung - ohne vorherige Auflösung beschlossen. Für dieses widersprüchliche Unterfangen steht auch die Entscheidung für einen neuen Parteinamen, der dem „neuen Geist“ entsprechen soll.

Revolutionäre Erneuerung proklamiert

Immerhin verspürten die Delegierten in einem einstimmig verabschiedeten Positionspapier das Bedürfnis, sich „gegenüber dem Volk aufrichtig dafür zu entschuldigen, daß die ehemalige Führung der SED unser Land in diese /existenzgefährdende Krise geführt hat“. Die Delegierten bedankten sich bei den Bürgern, die die radikale Wende gewaltlos erzwangen und damit der Partei zugleich die Chance einer „revolutionären Erneuerung“ eröffneten. „Der Parteitag“, so attestierten sich die Genossen, bedeute nicht nur das „Ende der machtpolitischen Überhebung der Partei über das Volk“, sondern zugleich den Bruch „mit der Diktatur der Führung über die Parteibasis“. Auch hinter solchen Formulierungen verbirgt sich das dominante Bedürfnis nach Schuldabwehr, das den Verlauf der Debatte über weite Strecken bestimmte.

Was der beschworene Neubeginn für das programmatische Profil der Partei bedeutet, wurde sowohl in der Rede Gysis als auch im Positionspapier eher angerissen als ausformuliert. Doch auch das gehört mit zum neuen Selbstverständnis, ist ein Moment, an dem das Ende der zentralistischen Tradition in den kommenden Wochen deutlich werden könnte. Die „einheitlichen Linie“ ist künftig obsolet. „Wartet nicht auf die neue Linie“, proklamiert der Parteitag „sondern erstreitet den Weg der Partei.“ Die alte, administrierte Einheit soll der Vergangenheit angehören. Das neue Selbstverständnis soll aus dem „Wettstreit der Ideen aller Mitglieder, ihren Plattformen und innerparteilichen Strömungen“ gewonnen werden. Einheit bedeutet, so Gysi, künftig nicht mehr innere Geschlossenheit, sonder „Offenheit gegenüber allen demokratischen Bewegungen und Menschen“. Deutlich klingt in solchen Formulierungen das Kooperationsangebot an die neuen politischen Kräfte im Land an.

Reichhaltig ist das Angebot an Traditionen, die ins programmatische Profil der erneuerten Partei eingehen sollen. Gysi benennt in seiner Eröffnungsrede die progressiven Linien der kommunistischen, sozialdemokratischen, antifaschistischen und pazifistischen Bewegung. Die „moderne sozialistische Partei“ bedürfe dieser Traditionen und bekenne sich zum Marxismus und Leninismus. Doch mit einer unscheinbaren Formulierung macht Gysi deutlich, daß es künftig keine verbindliche Ideologie mehr geben soll, die den Blick auf die Wirklichkeit jahrzehntelang dogmatisch verstellte: Die Partei werde die benannten Traditionen „kritisch aufnehmen“, doch wende sie sich künftig „konsequent den veränderten Problemlagen der Gegenwart und Zukunft“ zu. In diesem Sinne will sich die SED auf „die modernen Gesellschaftswissenschaften“ stützen. Eine Einengung der theoretischen Quellen“ soll es in Zukunft nicht mehr geben.

Das so formulierte Selbstverständnis wird auch Regierungschef Modrow mittragen, wenngleich die beschwörende Tonlage seiner Rede deutlich an frühere Traditionen anknüpfte: „Laßt diese Partei nicht zerbrechen und untergehen, sondern macht sie sauber und stark.“ Die Bedürfnislage der Delegierten dürfte Modrow mit solchen Beschwörungen und Lobreden auf die Genossen, die in schwieriger Zeit ihre Pflicht erfüllten, eher getroffen haben als Gysi, der aus der Vorläufigkeit seiner programmatischen Ideen keinen Hehl machte.

„Dritter Weg“ für die DDR

Der „dritte Weg“ ist seit dem Wochenende die Formel unter der die Partei ihr programmatisches Profil finden will. Damit umreißt sie nicht nur ihre Hoffnung auf die Realisierung eines demokratischen Sozialismus, sondern unterstreicht zugleich das Festhalten an der Eigenstaatlichkeit der DDR. Die „Sozialismusdefinition“ allerdings, die eine verunsicherte Delegierte am Rande des Parteitags von Gysi erbittet, will der nicht geben. „Was wir jetzt hier probieren, das gibt es auf der Welt bisher noch nicht.“ Doch aus dem Scheitern des administrativen Sozialismus und der Unfähigkeit des Kapitalismus, einen „wirksamen Beitrag zur Lösung der Menschheitsprobleme zu leisten“, entwickelt Gysi die Notwendigkeit eines eigenen Weges für die DDR. Radikale Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Humanismus und soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und Gleichberechtigung der Frau benennt er als Zielperspektiven der künftign Politik. Jede Form der politischen und ökonomischen Monopolmacht müsse verhindert, die wirtschaftliche Effektivität mit den ökologischen, sozialen und kulturellen Interessen der Menschen verbunden werden.

In bezug auf die aktuellen gesellschaftlichen Forderungen sprach sich Gysi für die Auflösung der Betriebskampfgruppen und die Abschaffung des Amtes für Nationale Sicherheit aus. Parteibüros und hauptamtliche Funktionäre in den Betrieben soll es in Zukunft nicht mehr geben.

Während es Gysi so gelingt, künftige Zielsetzungen anzureißen, bleibt die Abrechnung mit der Vergangenheit in seiner Rede eher abstrakt. Geschickt entspricht er dem übermächtigen Bedürfnis der Delegierten nach Stabilisierung ihres desolaten Selbstwertgefühls. Wo Gysi die Verfehlungen der Vergangenheit benennt, tut er es nirgends ohne Hinweis auf die Ehrlichkeit der meisten Genossen. Die „Strukturen“, die es jetzt zu verändern gelte, macht auch er als Hauptursache für die Krise verantwortlich. Merkwürdig blaß bleibt auch sein Bericht über die Arbeit der Parteiuntersuchungskommission, die weit hinter dem zurückbleibt, was bereits seit Wochen in den Medien enthüllt wird. Wenn er sich im Interesse der Rechtsstaatlichkeit gegen Vorverurteilung der beschuldigten Genossen ausspricht, so gibt er damit zwar das lange überfällige Zeichen der Fairneß gegenüber den noch vor kurzem gefeierten Parteiführern. Doch viele Genossen werden Gysis differenzierte Position zur Schuld der Partei als Unterstützung ihrer eigenen Verdrängungsbedürfnisse nutzen. Für die Zukunftschancen der Partei wird viel davon abhängen, ob der für das nächste Wochenende angekündigte Rechenschaftsbericht zum Ausgangspunkt einer rückhaltlosen Debatte über die bisherige Politik genommen wird. Daß die Wahl der neuen Parteiführung vor die Aufarbeitung der Vergangenheit gesetzt wurde, ist, als Kontrapunkt gegen die Auflösungstendenzen, begreiflich. Doch der Versuch, mit neuer Führung, Namen und Programm die „Erblast“ abzuschütteln, wäre ebensowenig glaubwürdig wie die pauschale Bitte ans Volk um Entschuldigung. Ohne die schmerzhafte Auseinandersetzung über die eigene Geschichte wird die Partei die bevorstehende Konkurrenz mit den neuen politischen Kräften im Land nicht bestehen können.

Matthias Geis