1.000 EINGEMOTTETE PHILISTER

■ Samson und Delila in der Deutschen Oper

Schon nach den ersten blassen Bläsertönen ist die ganze Vorfreude auf das erste Wunschkonzertvergnügen perdu. Wie dann der Vorhang bedächtig beseite gezogen wird, mieft es plötzlich unüberriechbar nach Mottenpulver, und auch die Hoffnung auf das tolle Gewitter im zweiten und wenigstens einen prächtigen Tempeleinsturz im dritten Akt geht flöten.

Das Orchester latscht leidenschaftslos fürbaß, ein jegliches folgt seinem Notenblatt. Der Dirigent scheint keine Ahnung zu haben, was anfangen mit dieser Musik. Auf der Bühne sind nachkolorierte Klischees zu sehen nebst wandelnden Oblatenbildchen aus der Bibelstunde. Auch dem Team von Ausstattung und Regie ist nämlich zu dem Stück rein gar nichts eingefallen. Die Chöre singen laut: Ach, weh uns, Schmach, Schande, Knechtschaft, auf ihr Brüder und so weiter. Sie singen auf französisch mit Pauken und Trompeten, noch lauter singt der Heldenchor - wenn sie fertig sind mit dem Singen, setzen sie sich wieder hin. Später kommt noch mehr Chor sowie eine dicke Dame, die auch sehr schön singt, aber mehr sinnlich mit Harfenklimpern. Dazu schüttelt sie lasziv ihre roten Locken. Dann kommt eine Pause, manche gehen nach Hause, manche trinken Brause. Wie das eben so zugeht in der Oper.

Dabei ist die Geschichte von Samson und Delila so übel nicht und immer wieder aktuell. Das Volk Israel, um das Jahr 1150 mitten im Gazastreifen und wieder einmal unter die Philister gefallen, sein Held und Anführer, der starke Samson, der ohne weiteres 1.000 Philister mit den Kinnbacken eines Esels erschlagen hat und dennoch der schönen, falschen Delila auf den Leim geht, die ihm die Haare schneidet. Somit entmannt und entmachtet, gefangen, gefoltert, verhöhnt und geblendet (denn die Liebe macht blind), nimmt sich der Held noch einmal kurz zusammen und rüttelt an den tragenden Säulen des Heidentempels, der dann mit Gottes Hilfe zusammenkracht und Gute wie Böse unter sich begräbt. Bekannt ist der Plot aus dem Religionsunterricht, Rubens und Rembrandt haben ihn schön in Öl gemalt, viele Dramen wurden dazu geschrieben - und Camille Saint-Saens komponierte vor gut 100 Jahren, als halb Europa und insbesondere das intellektuelle Frankreich gerade auf dem Orient-Trip war, aus dem Stoff seine einzige erfolgreiche Oper.

Dramaturgisch ist das Werk etwas schwach auf der Brust, aber musikalisch ist mächtig was los. Saint-Saens war so eine Art neoklassizistischer Spätromantiker mit einem leicht barocken Hang zu Zirkusmusik - also ist wirklich für jeden etwas dabei: Jägerchöre neben großen Meyerbeerschen Massenaufmärschen, schmachtende Wagnerharmonik neben solider Mendelssohnscher Fugenarbeit, luzides Streichergeklingel, breites Blech - und wo mit archaischen Skalen, wilden Trommeln oder betörend sich windenden Holzbläsern das Lokalkolorit an der Reihe ist, hört sich das mindestens so orientalisch an wie ein echter Kasatschok. Selbst Augenblicke von tiefster Tragik werden da so leicht wie eine Feder. Diese Musik schwitzt nicht, freilich reißt sie auch niemanden mit in irgendwelche Abgründe.

Romain Rolland hat den Unterschied zwischen Delila und Carmen gleich gemerkt: „Saint-Saens wird von keiner Leidenschaft geplagt. Nichts trübt die Klarheit seines Verstandes... Goethe hätte, glaube ich, gesagt, es fehle ihm etwas Dämonisches. Der individuelle Zug seiner moralischen Physiognomie scheint mir eine melancholische Mattheit zu sein, die ihren Ursprung hat in einem recht bitteren Gefühl von Nichts...“

Kurzum: Samson und Delila sind mit Liebe, Tod und Teufel an sich ein absolut opernfähiges Gespann - nur hat Saint-Saens die beiden in seiner höchst eigentümlich unoperigen Oper quasi wieder entopert, dabei hinwiederum so virtuos vielerlei Operntypen zitiert, daß man gut und gerne drei bis vier komplette Opern aus dieser einen Un-Oper herausinszenieren könnte. Wenn man's kann. Zum Beispiel könnte man mitten in der Verschwörerszene im zweiten Akt nahtlos weitermachen mit Verdis Maskenball oder zu Anfang des dritten einfach übergehen zum Freischütz.

Giancarlo del Monaco (Regie) und Jesus Lopez Cobos (musikalische Leitung) konnten und wollten, wie gesagt, gar überhaupt nichts. Warum man sich denn nun zusammengefunden hatte an diesem teuren Abend, das blieb auch noch nach der ersten Pause weiter unklar. Bis dann endlich, bei der großen, aus Funk und Fernsehen bekannten Verführungsarie vorschriftsmäßig gewittert wurde, daß es krachte - auch das hohe Paar (Marjana Lipovscek und Wladimir Atlantow) sich gar mächtig ins Zeug warf, dergestalt, daß alle wieder aufwachten und auf der Stelle glücklich waren.

Großer Applaus - voila, das war's: Im ersten Akt wartet man auf den Schlager zum Mitsummen im zweiten Akt, im dritten dann zehrt man von der wohligen Erinnerung an den zweiten. Auf diese Weise kann man jede Repertoire-Oper ohne den geringsten intellektuellen Aufwand mit nur zwei großen Stimmen zum schönsten Erfolg führen. Zwei Stimmen, ein paar Mottenkugeln - und hin sind die 1.000 Philister.

Elisabeth Eleonore Bauer