Zwischen Nostalgie und Utopie

■ Die DDR-Literatur, soweit sie zählte, richtete sich strategisch gegen die öffentliche Sprache. Diese Qualität wird ihr in Zukunft fehlen

Zweifellos ist in der DDR, diesem Nachkriegsland der verlorenen Intentionen und der Neubekehrung, ein, wie der Dichter Durs Grünbein sagt, bizarrer Zweig der Literatur gewachsen: postmodern gesprochen, eine Literatur der Sinngebung, die in einer Art utopischem Realismus das Ideal eines möglichen Zustands immer in sich trug. Soll man aber derzeit über die Zukunft der DDR sprechen, versagt irgendwie die Phantasie. Vor der Frage, wie aus dem Sinnverlust nun ein Sinneswandel zu machen ist, findet sich die deutsche Literatur nicht das erste Mal wieder. Freilich standen nicht nur die Autoren des Aufbaus und der ersten Stunde in dieser sinnstiftenden Pflicht, sondern auch die dissidentischen Ketzer befanden sich in jener ideellen Tradition und sublimerweise freilich auch die anfangs noch namenlose Literatur des Prenzlauer Bergs, als sie den gesellschaftlichen Sinn zeitweilig suspendierte.

Die Germanisten befragten bisher immer nur: „Die Literatur der DDR und ihre Diskurse“ (so das Thema einer Tagung in Bad Godesberg). Vielleicht aber waren es gar keine Diskurse, sondern Strategien, vielleicht wäre es produktiver, nach dem Sinn des Suchens zu fragen, als einmal mehr nun der Suche nach diesem utopischen Sinn zu folgen, um den die DDR -Literatur vom Westen her immer beneidet wurde, weil sie gerade hierin für die Gesellschaft relevant war, und die westdeutsche Literatur in ihrem kapitalistisch-organischen Wachstum einen solchen für alle verbindlichen Sinn nur schwer ausmachen konnte.

Ein kapitalistischer Realismus mußte nicht erst erfunden werden, er war alles in allem einfach da, bevor er da war. Die Utopien aber des Westens waren um so utopischer, je politischer sie waren, und manchmal um so ohnmächtiger, je öffentlicher. Die westdeutsche, vornehmlich linke Literatur mußte sich ausdrücklich politisieren, um an gesellschaftlichen Prozessen beteiligt zu sein, die der DDR dagegen war quasi von Haus aus politisch, ob sie es wollte oder nicht, weil andere Politik mit ihr betrieben, und manchmal geriet sie schon deshalb zum Politikum, weil sie sich der Politisierung verweigerte. Diese wenn auch zuweilen unfreiwillige gesellschaftliche Relevanz ist bis heute gleichermaßen ihr Nachteil und ihr Vorzug, der, wo die Grenze, die ja vor allem die Literatur der DDR zweiteilte, nun hinfällig wird, wie jener DDR-Bonus, den hiesige Autoren im Ausland immer genossen haben. Man wird fortan ein deutschsprachiger Autor sein wie jeder andere, und die politischen Kursverzerrungen literarischer Werte werden wohl auf Dauer verschwinden wie die in der Wirtschaft auch.

Verschwinden wird mithin, wenn ich schon einmal dabei bin zu spekulieren, jene sich notorisch verweigernde Literatur, jene Sprache gegen die öffentliche Sprache, denn wo alles öffentlich ist, kann man sich dieser öffentlichen Gewalt schwerlich entziehen. Wenn die Kulturfunktionäre jetzt nicht mehr nur Bonzen sind, sondern verlegerische Geschäftspartner, wird diese Literatur sich den gnadenlosen Gesetzen der Branche unterwerfen müssen, wie jene westdeutschen Autoren, die ich kenne und schätze und die ich um ihren existentiellen, weil lebensnotwendigen Popularitätszwang nie beneidet habe. Die Repressionen des Marktes, auch wenn sie weitgehend gesinnungsneutral sind, erzeugen einen Anpassungsdruck, den ich für meinen Teil, wie viele andere, nicht zuletzt dieser Unabhängigkeit wegen hiergebliebenen Autoren auch ein für alle Mal abgelegt zu haben glaubte.

In der DDR war es möglich, gerade weil ein Teil der Literatur als inoffiziell marginalisiert wurde, relativ unabhängig von ästhetischen, ideologischen oder merkantilen Interessen zu arbeiten, und diese Literatur konnte sich nur vor ihrem sozialen Hintergrund entwickeln, dem eines autarken, urbanen Lebensgefühls am Prenzlauer Berg und andernorts, weil gerade hier die Not, und nicht nur die der Sprache, eben erfinderisch machte. Es bedarf dieses sozialen Konsens, weil es sich in jeder Kultur um Zeichen handelt, die gemeinsam verabredet werden müssen - und wenn es nur eine Frisur ist oder ein Jargon. Für sich allein kann man keine Kulturformen erfinden, die kommunizierbar wären. Mit dem Verlust dieser Sozialität, der schon vor Jahren mit der ersten großen Ausreisewelle begann, verlor diese Literatur auch ihre angestammten Zirkel und geriet, nach ihrer Entdeckung durch die Milieuliebhaber, in eine ihr fremde Öffentlichkeit, auf die sie ursprünglich nicht gerichtet war.

Ich denke, der wesentliche Unterschied der hiesigen Literatur zu der des Westens ist, daß sie, wie Gert Neumann es nennt, klandestin war, und die Klandestinität geht, das ist ein offenes Geheimnis (man denke nur an die Massenauflagen der Esoterik!), in einer Öffentlichkeit verloren, in der man die vorgefundenen Zeichen nur noch illustrieren oder verfremden kann; oder aber man züchtet eine Kultur unter Laborbedingungen, einen modernen Golem, wie ihn die Livestyler vom Wiener oder von Tempo kultivieren. Davor graut mir, obwohl ich hier freilich den Teufel nicht an die Wand malen will, und wenn ich bisher nur von Verlusten gesprochen habe, die der DDR-Literatur unter dem westlichen Nivellierungsdruck drohen, so ist dies selbstverständlich die letzte Zehrung von oben genanntem Bonus auf dem Weg aus der Versenkung ins Abseits.

Rainer Schedlinski