Alliierte gegen Kohl

Das Treffen der Siegermächte und die Wiedervereinigungsfrage  ■ K O M M E N T A R E

Natürlich kann man als Linker aufatmen, daß die „Unwägbarkeiten der deutschen Seele“, wie es Frau Seebacher -Brandt ausdrückte, nun unter die Kontrolle der vier Siegermächte genommen werden. Aber glücklich kann man darüber nicht sein. Das Volk der DDR hatte die historische Bühne betreten, hat sich emanzipiert, hat siegreich den aufrechten Gang begonnen. Das war - von fast allen unbemerkt - auch das Ende der Nachkriegszeit. Die Selbstbestimmung der Deutschen wurde aus einer Propagandaphrase zur politischen Realität. Die Zeit reifte, um die Deutschen hüben und drüben vor die große politische Aufgabe zu stellen, sich selbsttätig und in unbeschränkter Verantwortung um das Vertrauen der Völkergemeinschaft in die deutsch-deutsche Entwicklung zu bemühen. Dann - und nur dann - hätte man mit Recht sagen können, daß den alliierten Vorbehalten keine politische Realität mehr entspricht.

Aber dieser deutschlandpolitische Marodeuer in Bonn hat die Chance zur Normalisierung in Mitteleuropa ruiniert. Kohl hatte seinen sogenannten 10-Punkte-Plan wohlweislich am Außenminister, an den Verbündeten und an der Sowjetunion vorbeigezogen. Im realpolitischen Kern war es nichts als die Neuformulierung der „Vertragsgemeinschaft“ der Regierung Modrow; in der politischen Substanz war es aber pure Demagogie, die Eröffnung des Wahlkampfes als Wiedervereinigungswahlkampf. Die SPD, in der Angst, wieder als vaterlandslose Gesellen zu erscheinen, fiel prompt um. Die deutschlandpolitisch verräucherten Westmedien von der 'Bild'-Zeitung bis zu Herrn Augstein sahen die Stunde der Deutschen. Was sie nicht sahen, war der Flurschaden, den Kohl angerichtet hat. Sie sahen nicht, daß die deutsche Außenpolitik von einem Tag auf den anderen isoliert war, von der prompten Distanzierung der westlichen Alliierten bis zur dezidierten Warnung aus Moskau. Sie bemerkten nicht, zu welchem Sicherheitsrisiko dieser Kanzler geworden ist. Daß er ein politisch verantwortungsloser Politiker ist, wenn's um den Machterhalt geht, weiß man schließlich. Aber er hat zudem alle klügeren Politiker weggebissen. Niemand macht für ihn den Wahlkampf. Er selbst ist also der oberste Wahlkämpfer und erst in zweiter Linie Kanzler. Das Treffen der Siegermächte gestern wäre ohne die Wiedervereinigungsfanfare Kohls so nicht zustandegekommen. Kohl hat damit den Republikanern das Terrain eröffnet. Sie können nun zu Recht Wiedervereinigung als Befreiung vom Diktat der Alliierten fordern, können tönen, daß 50 Jahre Sieg über den Nationalsozialismus genug seien. Sie werden damit nicht allein stehen. Auch Augstein empfindet so. Nur, die Republikaner haben die Stimmen.

Was die richtige Politik in Deutschland dieser Zeit sein muß, liegt auf der Hand: Sie muß die Perestroika absichern; sie muß die absurden ökonomischen Widersprüche zwischen Ost und West mäßigen, sie muß die heraufziehende Völkerwanderung sozial-politisch abfangen; muß die bundesdeutschen Privilegien der DDR-Flüchtlinge abbauen, denn schließlich gibt es die Kategorie der DDR -Flüchtling nicht. Da hat Lafontaine, der einzige SPD -Politiker, der den notwendigen Mut zum Unpopulären hat, völlig recht. Vor allem aber muß die bundesdeutsche Politik den Massen von Leipzig sagen können, daß die Wiedervereinigung als Sturm über den DDR-Staat hinweg nicht kommen kann und darf. Der geile Griff nach einem großen Deutschland oder nach einem Großdeutschland zerstört das europäische Haus, bevor die ersten Mauern stehen. Mit anderen Worten: Die Deutschlandpolitik in Bonn steht vor der Frage, ob der delirierende Wahlkämpfer Kohl auch noch ohne Siegermächte unter Kontrolle zu bringen ist.

Klaus Hartung