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Ein Präsident in der Tradition Masaryks

Die politischen, geistigen und menschlichen Qualitäten von Vaclav Havel sind in der Bevölkerung der CSSR umstritten / Obwohl er zunächst nur als Übergangskandidat antritt, könnte der Schriftsteller dem Präsidentenamt etwas von seiner alten Bedeutung zurückgeben  ■  Aus Prag Katarina Wolf

Sinn für Humor gehört zu diesen revolutionären Prager Herbsttagen ebenso wie die blau-weiß-rote „Fnajka“. Daher hielten viele es wohl für einen gelungenen Scherz, als an den Mantelkrägen die ersten Plaketten mit der Forderung „Havel for President“ auftauchten: der langjährige Hauptfeind des Staates nun als sein Oberhaupt? Am Tag des Rücktritts von Gustav Husak wurde es dann jedoch offiziell. Noch während der Kundgebung zum Tag der Menschenrechte beschloß das Bürgerforum, Vaclav Havel als Kandidaten für das Präsidialamt zu nominieren.

Auf die Frage, warum der Dramatiker breite Unterstützung in fast allen Teilen der Bevölkerung findet, geben Politiker und „einfache“ Bürger übereinstimmende Antworten. In der Tschechoslowakei gibt es ihrer Meinung nach neben Havel keine zweite Persönlichkeit, die sich durch vergleichbare geistige, politische und menschliche Qualitäten auszeichnet. In der augenblicklichen Krise könne allein er einen friedlichen Systemwandel garantieren. Nicht nur seine Frau Olga ist der Ansicht, daß Havel in der Lage ist, Menschen mit unterschiedlichen Standpunkten zu Kompromissen zu bewegen. In einer Rundfunksendung des Bürgerforums wurde der Brief, den der Bürgerrechtler bereits 1975 an Gustav Husak geschrieben hatte, verlesen. Die junge Moderatorin zeigte sich überrascht, wie genau Havel bereits damals die gesellschaftliche Psychose beschrieben hat. Aus Angst vor Repressionen, so heißt es in diesem Brief, treten Studenten in den FSM ein, gehen Bürger zu politischen Manifestationen. Aus Angst geben sie vor, die herrschende Partei zu unterstützen, aus Angst leben sie in der Lüge. „Prawda“ (Wahrheit) ist daher heute eine der dringlichsten Forderungen in der Bewegung. Fast scheint es, als wollten sich TschechInnen und SlowakInnen mit Vaclav Havel ein Staatsoberhaupt wählen, das ihnen Vorbild sein kann bei ihrem „Versuch, in der Wahrheit zu leben“.

Seine Amtszeit möchte Havel auf die Monate bis zur Durchführung der ersten freien Wahlen begrenzen. Danach solle ein den tatsächlichen Willen des Volkes widerspiegelndes Parlament erneut über die Besetzung des höchsten Staatsamtes entscheiden.

Mit der Wahl Vaclav Havels zum tschechoslowakischen Staatspräsidenten würde dieses Amt eine Bedeutung zurückgewinnen, die es während der ersten Republik und erneut zwischen 1945 und 1948 besaß. Nach der Gründung der CSR 1918 war „die Burg“, der Prager Amtssitz des Präsidenten, nicht nur die Bezeichnung für einen mandelförmigen Gebäudekomplex. Auf die Burg hatte Tomasc Masaryk, „Staatsmann und Philosoph“, jeden Donnerstag Wissenschaftler, Politiker und Journalisten geladen, um gemeinsam über die zukünftige Politik des Staates zu streiten. Nach der Ansicht des ersten tschechoslowakischen Präsidenten sollte sich ein mit der Führung öffentlicher Angelegenheiten beauftragter Bürger nicht allein durch Sachkenntnis und Erfahrung, sondern vor allem durch menschliche Qualitäten auszeichnen.

Masaryks Nachfolger Eduard Benes verbrachte die Zeit der nationalsozialistischen Okkupation im Exil. In London gelang es ihm durch die Organisation verschiedener Widerstandsaktionen im Protektorat und die bereits 1943 aufgenommenen Verhandlungen mit der Sowjetunion, die Hoffnung auf eine baldige Befreiung des Landes zu stärken. Anders als in der DDR wurde nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 in der CSR kein kollektives Staatsorgan gebildet. Statt dessen versuchte die KP das hohe Ansehen, das der Präsident der Republik bisher genossen hatte, nun zu ihren Gunsten zu nutzen. dies jedoch gelang allein Ludwig Svoboda (1968- 73). Gustav Husak erschien in den letzten Monaten in der Tagespresse nur noch dann, wenn er neu nach Prag gekommene Botschafter empfangen hatte. Damit darf und kann Havel sich nicht zufriedengeben - die an ihn geknüpften Erwartungen sind hoch.

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