Wenig Utopie, viel Pragmatismus in der CSSR

Mit Glockengläut und Sirenenklang feierten die Tschechoslowaken gestern den Sieg über die Partei / Stetiger Machtverlust der KP / Jugend fordert Moral / Labiles Gleichgewicht zwischen Tschechen und Slowaken / Kein Come-back für Dubcek  ■  Aus Prag Klaus-Helge Donath

Am 17. November anläßlich der Studentenproteste in Prag demonstrierte das bis dahin repressivste sozialistische System noch einmal mit aller Gewalt seine Macht, um dann so schnell und widerstandslos in der Versenkung zu verschwinden wie keines der anderen Systeme in Osteuropa. Eine Jubelfeier mit Glockengeläut und Sirenenklang anstatt eines angekündigten Generalstreiks setzte gestern den Schlußstrich unter das Tauziehen zwischen Volk und Partei.

Ganze drei Wochen hatte es von der Herausforderung der kommunistischen Macht bis zur Einsetzung einer neuen Regierung gedauert, deren neuer stellvertretender Ministerpräsident, Jan Carnogursky, sogar noch vor zweieinhalb Wochen im Gefängnis saß. Mit sieben der 21 Ministerposten findet sich die KPTsch in einer Minderheitenposition wieder. Auf die Stimmen der Blockparteien werden die kommunistischen Minister auch nicht bauen können. Denn für sie gilt es jetzt, sich zu profilieren.

Die neue politische Führung präsentierte sich als eine „Übergangsregierung“ der „nationalen Verständigung“, der die Aufgabe zufiele, die Wahlen für den Sommer 1990 zu organisieren. Natürlich zeigen sich Teile des Staatsapparates nach wie vor widerwillig, den neuen Vorgaben zu folgen. Und noch ist auch nicht klar, wie die radikalen Veränderungen in der Provinz ihren Niederschlag finden. In Partei und Staatsapparat der Ostslowakei zumindest soll es erheblichen Widerstand gegen den erzwungenen Machtverzicht der Partei geben. Derweil geht die Selbstdemontage der KP aber weiter. Die Plattformen innerhalb der Partei, allen voran das „Demokratische Forum“, in dem sich mittlerweile zigtausende Mitglieder zusammengeschlossen haben, tragen eher den Spaltpilz in sich, als daß sie ihr erklärtes Ziel, die Einheit der Partei zu retten, tatsächlich verwirklichen könnten. Dazu kommt noch die Bankrotterklärung des staatlichen Gewerkschaftsverbandes ROH, der der Gründung unabhängiger Gewerkschaften nichts mehr entgegenstellen kann. Und dem staatlichen Jugendverband SSM schwebt zukünftig ein landesweites Bündnis aller „linksorientierten Jugendlichen“ vor, wie es ein ZK-Funktionär allerdings nicht ohne Skepsis formulierte.

Denn der Sozialismus hat abgewirtschaftet, insbesondere unter den Jugendlichen. Als Gegenreaktion auf die jahrelange ideologische Bevormundung fordern sie lautstark Moral statt politischer Ideologie. Gaubwürdigkeit, Wahrheit und Ehrlichkeit sind ihre zentralen Begriffe. Etwas tief Religiöses haftet dieser Bewegung an. Welche politischen Konzeptionen das Neue tragen soll, darüber wird noch gar nicht diskutiert.

In der Opposition haben sich ebenfalls kaum politische Orientierungen herauskristallisiert. Um das herrschende System zu sprengen, verzichteten alle Gruppen auf ihre Egoismen und bewiesen im Gegensatz zur DDR-Opposition strategisches Geschick und Effizienz. Und ihr Pragmatismus korrespondiert mit der Stimmung in der Bevölkerung. Deren Wunsch, vom Arbeiter bis zum Professor, tendiert in Richtung einer platonischen Gelehrtenrepublik: Fachleute sollen es sein. Die meisten Tschechen sehen darin ein Allheilmittel, und das neue Kabinett erfüllt diese Bedingungen. Verknüpft wird dies mit dem hohen zivilisatorischen Stand der Gesellschaft zwischen den Kriegen. Ein Strohhalm, an das sich das angeschlagene Selbstbewußtsein zumindest der Tschechen klammert. Programmatische Vorstellungen hat das „Bürgerforum“ bisher nicht formuliert. Zwischen dem neuen Finanzminister Vaclav Klaus, der eine Gesundung der Wirtschaft mittels strikter monetaristischer Instrumentarien befürwortet, und Havel dürften bald Differenzen auftreten. Wenn auch nur verhalten , warnt er vor einer Kopie der westlichen Gesellschaft. Deshalb hat sich Havel auch nur widerstrebend auf die Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten eingelassen, das politische Zurückhaltung erfordert.

Die Decke fähiger Leute, die eine Umstrukturierung in Angriff nehmen könnten, ist nur dünn gewebt. Mit der Ernennung des Slowaken Marian Calfas zum Ministerpräsidenten ist bereits eine Vorentscheidung für die Präsidentenwahl gefallen. Der Slowake Dubcek kann es nach den Regeln des labilen Gleichgewichts zwischen den beiden Völkern nicht mehr werden. Wie verwundbar deren Verhältnis ist, offenbarte sich selbst in der Opposition, die peinlich darauf bedacht ist, keinen zu übervorteilen. Nur die Jugend handhabt dieses Problem unbefangener. Gegen Dubceks Kandidatur spricht jedoch auch, daß seine Vision eines demokratischen Sozialismus einer Zeit angehört, mit der jetzt endgültig abgerechnet werden soll. Zu sehr identifiziert man ihn noch mit der Kommunistischen Partei.