Realsozialismus passe - was tun?

Internationales Treffen von Marxisten in Bonn / Stalinistisch geprägter Sozialismus hinüber, dennoch weiterhin festhalten an der Grundidee / Hoffnungen auf KSZE-Prozeß  ■  Aus Bonn Michael Bullard

„Wie können wir an den jetzt so spannenden Ereignissen in Europa teilhaben?“ Dieser Wunsch des Chefredakteurs von 'Marxism Today‘ aus London, Martin Jacques, bewegte angesichts der Revolutionen in Mittel- und Osteuropa etwa hundert um ihren Lebenssinn besorgter Marxisten aus der Bundesrepublik, der DDR, der Sowjetunion, Großbritannien und den Niederlanden am vergangenen Wochenende in Bonn-Beuel. Auch grün-alternative PolitikerInnen waren zu der zweitägigen Veranstaltung über die Zukunft der Linken in Europa gekommen, zu der Peter Brollik von der DKP-nahen Initiative Dialog Europa und der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Gründer der Demokratischen Sozialisten, Karl-Heinz Hansen, geladen hatten.

Die Zukunft des Sozialismus in Europa stand zur Debatte. Das Fazit fiel düster aus. Zwar hatte Gastredner Harald Neubert vom ZK der noch existierenden SED zu Beginn versucht, Optimismus zu verbreiten: „Der real existierende Sozialismus muß grundsätzlich revidiert werden, aber es ist ein Irrtum zu glauben, der Sozialismus an sich sei gescheitert.“ Für die Mehrheit der Anwesenden aus dem Dunstkreis des Reformflügels der DKP faßte jedoch Jörg Huffschmids von der Memorandum-Gruppe die Stimmung zusammen: „Die Euro-Linke existiert noch nicht, es wird sie auch in den nächsten fünf bis sechs Jahren nicht geben.“

Den von Jacques ersehnten Zeitgeist konnten die GenossInnen erst bei der abschließenden Podiumsdiskussion schnuppern. Die beiden Vertreter der Grün-Alternativen, Jürgen Schnappertz, Mitarbeiter der Grünen im Bundestag, und Angelika Hirschmüller von der AL West-Berlin, ließen kurz den in ihrer Partei schwelenden Konflikt über die richtige Ostpolitik - EG-Erweiterung oder Europäisches Haus aufflammen. Schnappertz: Austritt aus der Nato, Ablehnung der EG, Ausverkauf des Ostens verhindern? Das sei alles Quatsch. Ohne westliche Hilfe und Kapital sei dem Osten gar nicht zu helfen. Die Folge wäre höchstens eine Rückkehr zur Nationalstaatlichkeit, die Europa den „Erstickungstod“ bringen würde. Deshalb forderte er eine konstruktive EG -Politik, die unter kritischer Ausnutzung der existierenden supranationalen Strukturen versuchen müsse, positiven Einfluß auf die Ostpolitik der EG zu nehmen. Logische Konsequenz einer solchen Politik: die Mitgliedschaft der DDR in der EG - eine plausible Antwort auf die Wiedervereinigerer in BRD und DDR. Keine Wiedervereinigung schien dann auch der kleinste gemeinsame Nenner zwischen den Diskutanten. Jürgen Reusch vom DKP-Institut für Marxistische Studien in Frankfurt hielt Schnappertz Vorschlag für eine monopolkapitalistisch-reaktionäre Alternative zu Gorbatschows Idee vom „gemeinsamen Haus Europas“. Auch Angelika Hirschmüller war von Schnappertz Thesen nicht angetan. Sie möchte die Europäische Ordnung, wie sie am Ende des Zweiten Weltkrieges von den Supermächten in Jalta beschlossen wurde, positiv weiterentwickeln. Bei der Neuordnung Europas soll der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) eine bedeutende Rolle zukommen. Seit 1973 haben die Außenminister der 16 Nato -Länder, der sieben Staaten des Warschauer Pakts und der zwölf blockfreien Länder in loser Folge über eine Stärkung der politischen Zusammenarbeit in Europa diskutiert. Dieser KSZE-Prozeß soll nach ihrer, aber auch nach Ansicht der Aufbruchsgruppe um Antje Vollmer zu einem neutralen Mitteleuropa führen, dessen Kern ein neutrales, entmilitarisiertes und dezentralisiertes Deutschland ist. Ob dieses Deutschland allerdings aus einem oder zwei Staaten bestehen soll - darüber gibt es auch bei den Grünen unterschiedliche Meinung.

In einem auf der Konferenz vorgestellten Diskussionspapier der AL heißt es zu dem KSZE-Prozeß: Der Rahmen für eine Überwindung des Nationalstaats kann nur „gesamteuropäisch sein, um die Konfrontation der Blöcke zu überwinden und der Sogwirkung einer Westintegration in die EG entgegenzuwirken“. Deshalb schlagen die Autoren eine KSZE -Sonderkonferenz in West-Berlin vor, die gesamteuropäische Regelungen für eine gleichberechtigte Wirtschaftskooperation zwischen Ost und West und einen gesamteuropäischen Fonds schaffen soll.