Sprung in die Marktwirtschaft

Gewerkschafter und Wissenschaftler aus West und Ost trafen sich zum Gedankenaustausch über die Zukunft der Gewerkschaften in Europa / Düstere Aussichten: Abschied von der sozialen Utopie  ■  Aus Bonn Gabriele Sterkel

„Ich glaube nicht, daß es durch die Entwicklung in der DDR leichter wird, sich der 35-Stunden-Woche zu nähern“, erklärte der DGB-Vorsitzende Ernst Breit auf einer Tagung des „Solidaritätskreises gegen Arbeitslosigkeit“ Ende letzter Woche in der Nähe von Bonn. In diesem Solidaritätskreis haben sich auf Initiative des DGB 1987 prominente Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kirchen, Kultur und Gewerkschaften zusammengeschlossen. Ziel des Kreises: der Verdrängung der Massenarbeitslosigkeit und ihrer zerstörerischen Folgen aus dem öffentlichen Bewußtsein entgegenzuwirken.

Auf dem Programm der illustren Runde standen zwei Themen. Erstens: Wie kann der „Solidaritätskreis“ in der Tarifrunde 1990 den Kampf der Gewerkschaften um die 35-Stunden-Woche unterstützen? Und zweitens: „Die Reformprozesse in Osteuropa - Rolle und Bedeutung der Gewerkschaften.“ Dieses zweite Thema ist in Gewerkschafterkreisen gänzlich neu. Eingeladen hierzu: ein Vertreter von Solidarnosc aus Polen, ein Wirtschaftswissenschaftler aus der Sowjetunion, ein Oppositioneller aus der Tschechoslowakei und zwei Mitglieder des Neuen Forums.

Demokratische Reformbewegung im Osten Arbeitszeitverkürzung als Weg in eine humanere Gesellschaft im Westen. Doch die 35-Stunden-Woche droht immer unerreichbarer zu werden. „Für mich“, so Ingrid Kurz-Scherf vom DGB, „ist Arbeitszeitverkürzung ein Kulminationspunkt eines alternativen Gesellschaftsmodells. Ohne diese gibt es keine Chance für eine andere Gesellschaft, eine andere Arbeit, ein anderes Geschlechterverhältnis.“

Aber die Chancen für eine Arbeitszeitverkürzung stehen noch aus anderen Gründen schlecht. Zur angespannten Arbeitsmarktsituation durch die vielen Aus- und Übersiedler kommen Konkurrenzängste und die Ellenbogenmentalität hinzu. Gesellschaftliche Änderungen sind nicht in Sicht, da durch das Scheitern des Realsozialismus in Osteuropa dem hiesigen System - mit all seinen Schattenseiten - ein neuer Legitimationsschub beschert wurde.

Unabhängige, selbstbewußte und durchsetzungsfähige Gewerkschaften in Osteuropa zu unterstützen erscheint den bundesdeutschen Gewerkschaftern nun dringend geboten, „schon aus Eigeninteresse“, wie ein DGB-Funktionär betonte, „denn ein nackter Kapitalismus in der DDR hätte fatale Folgen für uns“. Um so ernüchternder waren die Berichte aus Polen, der CSSR und DDR. Fest steht für alle Vertreter aus diesen Ländern, daß es keine Alternative zur Marktwirtschaft mehr gebe, und zwar zu einer „Marktwirtschaft ohne Adjektiv“, das „Soziale“ ist für sie zunächst zweitrangig. „Wir können uns keine soziale Marktwirtschaft leisten“, erklärte der Solidarnosc-Vertreter, „das können nur die reichen Länder haben.“ Der Übergang zur Marktwirtschaft sei ein harter Sprung, der Gewerkschaft seien die Hände gebunden, denn sie trage Regierungsverantwortung.

„Uns kann es durchaus ähnlich ergehen wie der Solidarnosc“, befürchtete Ingrid Brandenburg, Ökonomin und Mitglied des Neuen Forums. Das größte Problem besteht ihrer Meinung nach in der wirtschaftlichen Leitung der Betriebe: gewaltiger Mangel an Kompetenz und und das Fehlen von Nachwuchskräften. „Wie kann eine Marktwirtschaft entstehen, wenn bei uns niemand kalkulieren kann?“ so ihre Frage. Und das ausländische Kapital stehe ja nicht erst bloß vor der Tür, sondern schon mitten im Land. Zum Aufbau einer demokratischen Gewerkschaft äußerte sie sich optimistisch: „Da ist mir nicht bange.“ Ihr Rezept für den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund in der DDR: Wenn im Apparat gründlich die Leute ausgewechselt werden, „wenn von unten rauf gewählt wird“, dann kann es gelingen, aus der „Bäder und Ferienorganisation FDGB“ eine richtige Gewerkschaft zu machen.

Der Graphiker Klaus Staeck zeigte sich erstaunt über die Zuversicht der DDRler. Er sei in einem Verlag in Bitterfeld gewesen, da werde kein FDGB-Kader abgewählt, da seien die Leute hilflos. Der Betrieb, berichtete Staeck, wird ab Januar keine Subventionen mehr bekommen, es soll „von heute auf morgen ein Unternehmen entstehen“, ein marktwirtschaftliches nämlich. Springer sei schon da und auch Beate Uhse.

Gewerkschaftschef Ernst Breit verwies auf die unterschiedlichen Ausprägungen von Marktwirtschaft, zum Beispiel in Schweden und in den USA; Marktwirtschaft bedürfe auf jeden Fall der Gestaltung, das „Soziale“ sei nicht auf später zu verschieben. Und Helmut Schauer von der IG Metall zog in Erwägung, daß die Volksbewegung in der DDR doch eine „radikaldemokratische Substanz“ habe - „da könnte doch auch was anderes möglich sein als die simple Übertragung des westlichen Zivilisationsmodells“. Die Betriebsleitung von Robotron habe sich ausgerechnet bei der IG Metall über das bundesdeutsche Lohnsystem informiert, erzählte Schauer „wir können doch nicht das, was wir bei uns für reparaturbedürftig halten, jetzt einfach in die DDR ausführen.“

Der einzige allerdings, der noch an einer Utopie festhielt und offensiv ein alternatives Modell von gesellschaftlichem und ökonomischem Wandel vertrat, wurde in diesem exklusiven Zirkel nicht besonders ernst genommen: Der Ökonom Maslow aus der UdSSR erläuterte, daß man bei der Umgestaltung in der Sowjetunion nicht auf „Mitbestimmung“, sondern auf „Selbstbestimmung“ der Produzenten setze. Die neue Gesellschaft müsse auf den drei Säulen „Information, Intelligenz und Interesse“ beruhen. „Wir wollen eine neue Bewegung für die Entfaltung der schöpferischen Fähigkeit des Menschen“, forderte Maslow. Hier spielten die Gewerkschaften eine wichtige Rolle bei der Befähigung zu demokratischer Beteiligung. Von den Besserwisserischen hagelte es „gute“ Ratschläge: „Kann denn die Sekretärin im Großbetrieb überhaupt entscheiden, wer der richtige Direktor ist?“ „Planung auflockern durch Selbstverwaltung? Nirgendwo auf der Welt ist das gelungen!.“

Da kümmert sich der DGB doch lieber um die bescheideneren Brüder und Schwestern in der DDR. Und denen will er nichts aufdrängen. Also fragt zurückhaltend: „Wie können wir Ihnen helfen?“