SPD: Vertragsgemeinschaft als Vorstufe zur Konföderation

Erst auf ausdrückliche Nachfrage bestätigte der SPD -Vorsitzende Hans-Jochen Vogel gestern, daß die deutschlandpolitische Erklärung, die er gerade der Presse vorstellte, wohl jener „große Wurf“ sein müsse, wie er aus der Partei in den vergangenen Wochen eingefordert worden war. Daß ihm diese eindeutige Charakterisierung nicht spontan eingefallen war, war so verwunderlich nicht, bieten sich doch für eine Bewertung des sechsseitigen Papiers eher die Kategorien „einerseits und andererseits“ an. Einerseits nämlich wurden „sehr viele Übereinstimmungen“ (Vogel) mit den Vorstellungen Helmut Kohls festgestellt, andererseits aber „sehr große Unterschiede“ (Egon Bahr) zur Kanzlerpolitik. Die Delegierten des Berliner SPD-Parteitags, denen das Papier am kommenden Montag zur Abstimmung vorliegen wird, können sich also je nach Gusto das eine oder das andere herauspicken.

Es dominieren aber letztlich die Übereinstimmungen: Die Sozialdemokraten sind für die „bundesstaatliche Einheit“ als Endpunkt einer Entwicklung des „Zusammenwachsens“ beider Staaten. Im Entwurf des Präsidiums findet sich an dieser Stelle zwar eine „Kann„-Formulierung; aber Hans-Jochen Vogel bestätigte gestern ausdrücklich, daß diese staatliche Form der Einheit gewollt sei. Unter der Maßgabe „Die Menschen in beiden Staaten werden entscheiden, wann welche Schritte zu gehen sind“ möchte die SPD möglichst bald eine Vertragsgemeinschaft als „Vorstufe zur Konföderation“ vereinbaren; die Vertragsgemeinschaft soll eine Währungsunion von BRD und DDR vorbereiten und die Staatsangehörigkeit derart regeln, daß jeder Deutsche „in jedem der beiden Staaten als Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten“ leben und seinen Wohnsitz nehmen kann. Darunter sei aber nicht, so erläuterte Vogel, die Anerkennung der DDR -Staatsbürgerschaft zu verstehen, sondern möglicherweise eine dritte, also quasi eine Konföderations-Angehörigkeit.

Nach einem historischen Vorbild dafür mußte Vogel gestern etwas länger suchen - schließlich fiel ihm ein Beispiel ein, bei dem sich das Wort Gleichberechtigung nicht gerade aufdrängt: das Verhältnis von England und Irland. Bereits im Stadium der Vertragsgemeinschaft verlangt dem Papier zufolge die SPD eine „Neuordnung des Verhältnisses der DDR zur Europäischen Gemeinschaft“, die nach den Worten Egon Bahrs bis zur EG-Mitgliedschaft gehen könne. Die Stadt Berlin soll ihre Rolle „als deutsche und europäische Metropole“ in neuer Weise ausfüllen. Zugleich verlangt die SPD aber die völlige Integration West-Berlins unter Berücksichtigung des direkten Wahlrechts der BerlinerInnen zum deutschen Bundestag. Eine endgültige Entscheidung über die „Einheit der Deutschen“ stellte sich der Vorsitzende Vogel in der Form einer Volksabstimmung vor.

Zu Beginn der Erklärung betont die SPD ihre Tradition als Wiedervereinigungspartei Kurt Schumachers: „Unvergessen ist der politische Kampf der SPD, Chancen zur deutschen Einheit zu suchen und zu nutzen.“ Und: „Die Nation“ verdanke es nun den Deutschen in der DDR, wenn die „Erfüllung eines sozialdemokratischen Traums“ näherrücke.

Die Unterschiede zur CDU-Politik betreffen vor allem das bei Kohl ungeklärte Verhältnis von Wiedervereinigung und Nato. Egon Bahr umriß dieses Problem mit folgenden Worten: „Man kann nicht einerseits die deutsche Einigung wollen und andererseits an den Blöcken festhalten.“ Es dürfe keinen deutschen Sonderweg geben und auch keine Ausdehnung der Nato bis an die Oder.

Die bestehenden Militärbündnisse müßten, so Bahr, durch ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem ersetzt werden. „Spätestens“, so die Erklärung, „wenn über die KSZE -Konferenz eine derartige Friedensordnung geschaffen sei, sollen auch die verbliebenen Vorbehaltsrechte der Vier Mächte (über Deutschland und Berlin) entfallen.“ Die Sozialdemokraten berufen sich in diesem Zusammenhang darauf, daß sie bereits 1925 die „Vereinigten Staaten von Europa“ gefordert hatten. Eine Konföderation beider deutscher Staaten sei aber mit der Zugehörigkeit zu Nato und Warschauer Pakt zwar noch zu vereinbaren; die polnische Westgrenze jedoch müsse „ohne Wenn und Aber“ anerkannt werden.

Dem Vorstoß Oskar Lafontaines, die sozialen Rechte von Übersiedlern in der Bundesrepublik zu beschneiden, hat das SPD-Präsidium zwar eine klare Absage erteilt, rührt doch dieses Ansinnen an das Tabu einer einheitlichen Staatsbürgerschaft. In der Deutschland-Erklärung heißt es jetzt aber: „Die Risiken in den Sozialsystemen beider Staaten“ könnten aufgrund der Freizügigkeit „nicht mehr getrennt kalkuliert werden“. Beide Staaten müßten daher zu einer „grenzüberschreitenden Solidargemeinschaft finden“. Und im Zuge dessen müßten auch jene „auf die Nachkriegszeit zugeschnittenen Gesetze“ überprüft werden.

Charlotte Wiedemann